Ich will hier einen Text posten, den ein mir geschätzter Lokalpolitiker aus Zwickau, Wolfgang Wetzel, auf facebook postete. Ich denke, das sagt viel darüber aus, warum nichts vorwärts geht:

Als „die Wende“ nach Schneeberg im Erzgebirge kam

Im Spätherbst 1989 kam das, was später „die Wende“ genannt wurde, auch in meine erzgebirgische Herkunftskleinstadt. Demonstrationen gegen das SED-Regime hatte es hier keine gegeben, aber die Stadtverwaltung lud nun zu einem Bürgerdialog in das örtliche Lichtspieltheater "Freundschaft" ein. Sommer und Herbst 1989 hatten mich stark politisiert, ich ging voller Erwartungen zu dieser Veranstaltung. Ich war damals längst nicht irgendwie „linksgrün“, sondern politisch eher sehr konservativ, ging aber davon aus, dass über „Runde Tische“, Bürgerbeteiligung, Wiedergutmachung des SED-Unrechts und Einführung der Demokratie diskutiert wird. Ich war aber auch erst 21 Jahre alt und naiv, durfte meine Anliegen auch öffentlich vorbringen, sie stießen aber kaum auf Interesse. Viel wichtiger und mit Applaus versehen waren andere Anliegen: Die Straße „Rosental“ muss endlich asphaltiert werden, weil die Schlaglöcher dort nicht mehr erträglich sind. Der Weißkohl in der Konsum-Gemüseverkaufsstelle gegenüber des Rathauses ist derartig vergammelt, dass faulige Brühe aus dem Regal tropft. In der „Siedlung des Friedens“ ist schon seit über einem Jahr eine Straßenlampe kaputt. Solche Dinge bewegten die Menschen und sie brachten das jetzt mit erstaunlicher Vehemenz und teilweise wütendem Sprachduktus vor. Über Ausländer wurde nicht geklagt, es gab damals ja auch keine in Schneeberg, außer die Familien der hier stationierten Sowjetarmee, zu denen aber kein Kontakt erwünscht war. Ich hatte den Kontakt mal versucht, um meine Russischkenntnisse nach der 5. Klasse am "Russenwohnblock" mit Gleichaltrigen zu testen, wurde aber zügig weggejagt.

Dann kehrte wieder Frieden ein in der Kleinstadt. Am 3. Oktober 1990 ging ich zum Marktplatz, um die deutsche Wiedervereinigung zu feiern, aber es war dort keine Feier, es waren kaum Menschen auf dem Platz. Vor dem Rathaus standen ein paar Mitglieder des Kirchenchores der Ev.-Luth. St.-Wolfgang-Gemeinde und sangen besinnliche und getragene Kirchenlieder, ich fand das etwas zu freudlos und pessimistisch. Im Rückblick denke ich, dass der Kirchenchor gar nicht so falsch lag.

Für demokratische Mitgestaltung und mehr Bürgerbeteiligung interessierten sich im weiteren Verlauf wenige, aber im März 1990 wählte die überwältigende Mehrheit Helmut Kohl, bekam im Sommer wunschgemäß die ersehnte die D-Mark und kaufte sich überteuerte alte West-Autos, die alsbald kaputt waren, weshalb man dann über mit Gebrauchtwagen handelnde Wessis schimpfen konnte. Nach der Währungsunion kollabierten reihenweise die DDR-Betriebe und die Leute wurden arbeitslos, so wie das ja vorhersehbar war, viele hatten gewarnt und wurden dafür beschimpft. Die Straße „Rosental“ in Schneeberg aber wurde endlich asphaltiert mit Hilfe der vielen Transfermittel der westdeutschen Steuerzahler. Es tropfte auch nicht mehr aus vergammelten Weißkohlköpfen, weil der Gemüsekonsum alsbald schloss; der Weißkohl in den neuen Supermärkten westdeutscher Handelskonzerne war einwandfrei. Auch die Straßenlampenglühbirne in der Friedenssiedlung wurde ausgewechselt. Ende 1990 ging ich dann weg aus meiner Herkunftskleinstadt.

Die Demokratie verwurzelte sich im weiteren Verlauf nicht, aber das Klagen und Schimpfen kehrte wieder, ganz laut mit Pegida seit 2014. Es ergriff im Laufe der weiteren Jahre große Teile der Gesellschaft, der es materiell insgesamt immer besser ging, der Wohlstand wuchs, die Zufriedenheit nicht. Nach und nach schlossen sich Teile der kommunalen Politik dem Klagen an – das Schimpfen auf „die da oben“ verschafft schließlich Gemeinschaftsgefühl. Das Gefühl gemeinsamer Identität, wo sonst nicht mehr viel Identität Stiftendes ist als die Identitätskrücke, gedemütigter Ossi zu sein. Zehntausende Likes sind heute Internetbeiträgen sicher, welche die großartigen DDR-Gemüseläden bejubeln, das in allen Belangen viel schönere Leben damals, inzwischen waren - so manche Beiträge - sogar Trabant und Wartburg den Westautos weit überlegen. Oft komme ich mit dem Kopfschütteln kaum noch hinterher.

Gesegnet die Orte, wo noch Kirchenchöre auf dem Marktplatz singen wie am 3. Oktober 1990 in Schneeberg. Aber ich male zu trübe, es wird auch wieder besser werden.

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