von Wladimir Kaminer. Die Teilmobilisierung ist erstaunlich schnell gelungen. Innerhalb eines Tages haben 300 000 Menschen ihre Häuser verlassen und sind in Richtung Grenze marschiert. Doch es war nicht die Grenze, zu der sie der Präsident schicken wollte. Sie protestieren mit den Füßen, verlassen in Scharen das Land. Damit ist der Mythos von grenzenlosem Rückhalt von Putins Kriegshetze in der Bevölkerung erstmal vom Tisch. Die Russen wollen genau so wenig in den Krieg ziehen, wie übrige Völker Europas. Manch Europäer würde sagen, das ist aber eine merkwürdige Art des Widerstandes, sich einfach davon zu machen. Darauf kann ich nur sagen: kein Land wird von Helden bewohnt. Der Preis des Protestes in Russland ist sehr hoch, das haben mehrere tausend Protestierende, die auf die Straße gingen am eigenem Leib erfahren. Lange Zeit hatte die Bevölkerung mit dem Staat nach einer von beiden Seiten eingewilligten Abmachung gelebt, die Bürger mischten sich in politischen Angelegenheiten nicht ein, der Staat gewährte ihnen die Freiheit im privaten Raum. Nirgendwo in diesem Vertrag stand, dass die Menschen in einem Angriffskrieg als Kanonenfutter verheizt werden. Der Staat hat den Vertrag gebrochen, jetzt laufen ihm seine Bürger weg. Sollte der russische Präsident den Nachbarn weiter drohen, mit Atomraketen und einem totalen Krieg, werden sich nicht nur hunderttausende Wehrpflichtige, sondern alle auf den Weg machen, um ihr Leben zu retten.
Wird dann der Präsident persönlich an die Front gehen? Doch er bleibt gelassen, er weiß, alle laufen ihm nicht weg. Wohin sollen sie denn gehen? Die Einwohner des größten Landes der Welt werden in Europa nicht gern gesehen. „Sie sollen nicht weglaufen, sondern das Regime stürzen,“ sagen die Ukrainer und Polen. Die Letten und die Finnen wollen die Grenze schließen, gar eine Mauer bauen. Sie haben natürlich Recht, große Regimestürzer sind die Russen lange nicht mehr, das Pulver der großen Oktober Revolution ist längst ausgeraucht. Die Russen sind Konformisten wie alle anderen Völker Europas, sie wollen in Ruhe gelassen werden, einkaufen, zur Arbeit gehen und ihre Kinder zur Schule bringen. Die Weltmachtambitionen ihres Präsidenten teilen sie nicht, eine neue Weltordnung steht ganz unten auf der Liste ihrer Lebensprioritäten. Doch die europäischen Türen bleiben zu. Zwei Länder haben bis jetzt die größte Mehrheit der vor der Mobilisierung Geflüchteten aufgenommen und beide sind keine EU-Länder: an der Grenze zu Georgien stand letzte Woche eine 40 Kilometer lange Schlange und in Kasachstan fanden am ersten Tag 100.000 Menschen Unterschlupf. Obwohl die Georgier noch vor kurzem einen Krieg mit den Russen führten und durchaus das Recht hätten, sie im Regen an der Grenze stehen zu lassen, haben sie ihre christlichen Werte über die politischen Uneinigkeiten gestellt.
Ebenso wie die Kasachen, die zum nächsten Angriffsziel des Regimes im Kreml zu werden riskieren. Sie haben ihre islamische Werte nach vorne gestellt, dem in Not Geratenem soll geholfen werden, egal wo er herkommt. Die EU ist sich wie immer uneinig.