Nachdem ich ein paar Wochen im Ausland verbracht habe, bricht die Berichterstattung in Deutschland wieder mit geballter Wucht auf mich ein. Für hauptberufliche Satiriker bedeutet 2016 ein weiteres verlorenes Jahr. Da kommt die deutsche Bundeskanzlerin zum Schluss „man habe lernen müssen, dass es nötig sei, Europas Außengrenzen zu schützen, wenn man innerhalb Europas die Freizügigkeit wolle.“ Äußerst beruhigend, dass solche Einsichten nun bei den Regierenden angekommen sind, das konnte man tatsächlich bis gestern noch gar nicht wissen. Konsequenzen daraus, natürlich keine. Da empfiehlt dieselbe Merkel den Deutschen, inspiriert vom Tourismusgipfel in Berlin, doch mehr Urlaub in arabischen Ländern zu machen, also genau dort, von wo die sog. Schutzsuchenden angeblich fliehen. Da erkennt der deutsche Innenminister nach einer längeren berufsbedingten Amnesie, "wir haben die Bedeutung von Religion unterschätzt“, eine Erkenntnis die übrigens bis vor kurzem noch als islamophob galt.
Da beklagt Lamya Kaddor, mediales Aushängeschild eines unbedeutenden islamischen Verbandes, zunehmenden (gähn) Rassismus in Deutschland, wird in den Leitmedien mit ihren Thesen hofiert, spricht von einer „Bringschuld der Deutschen“ und das überwiegend linksgrüne Studiopublikum klatscht glücklich ob dieser Forderung. Die Bilder „demonstrierender“ Kulaken in der Stalinzeit, die auf großen Plakaten ihre eigene Abschaffung fordern – allerdings auf weniger freiwilligen Basis – drängen sich unwillkürlich auf.
Da terrorisieren in Bautzen minderjährige „Flüchtlinge“ über Monate Einheimische. Als diese sich wehren, folgen die obligate Medienbeschimpfung des rassistischen Ostens und eine – allerdings spärlich besuchte – Lichterkette der Aufrechten. Da darf die Stasi-Mitarbeiterin Annetta Kahane, Leiterin der mit staatlichen Steuergeldern finanzierten Amadeu-Antonio-Stiftung, im ARD-Nachtmagazin unwidersprochen behaupten, dass der „Rechtsextremismus in der Mitte der Gesellschaft“ zu verorten sei. Diese Liste ließe sich endlos fortsetzen. Deutschland im Oktober 2016.
Zahlen sind per se abstrakt und deshalb böse
Wir sind inzwischen wohl tatsächlich, um die Bundeskanzlerin zu zitieren, im „Postfaktischen“ angekommen. Erinnern wir uns daran, dass schon lange vor der sog. Flüchtlingskrise der Vorwurf der grünen Politikerin Renate Künast in der Beckmann-Sendung gegen Thilo Sarrazin sich darauf reduzierte, dass er mit Zahlen und Daten operiere. Zahlen sind aber per se abstrakt und deshalb böse, also rechts und menschenverachtend. Nicht alle Zahlen werden aber gleich behandelt. Politisch korrekte Zahlen, in den deutschen Leitmedien mit masochistischem Schmerz zitiert, gibt es auch, etwa: 47 Prozent der Deutschen finden dass zu viele Ausländer im Land sind, 60 Prozent lehnen den Islam ab und wollen keine Moschee in ihrer Nachbarschaft, 82 Prozent sind gegen Merkels Flüchtlingspolitik.
Solche Zahlen dienen als Zeugen für den faschistischen Zustand der deutschen Gesellschaft, sind somit erlaubt, also links, und müssen öffentlich gemacht werden. Sie zeugen vom „Extremismus der Mitte“, der eigentlichen Gefahr in Deutschland, die, so die Blockwarte der Meinungsfreiheit, bereits manifest geworden ist. 80 Prozent der Intensivtäter in Berlin haben einen muslimischen Migrationshintergrund, 50 Prozent der Türken leben von Sozialtransfers oder zwei Drittel der momentanen Einwanderer sind Analphabeten – das sind im Gegensatz dazu „böse Zahlen“. Sie schüren Ressentiments, dürfen also im besten Falle nicht genannt, und müssen ansonsten (Diskriminierung, fehlende Willkommenskultur, falsche Datenlage und dergleichen) relativiert werden.
In geradezu parodistischer Weise bringt die Bundeskanzlerin die gegenwärtige Lage am 7. September 2016 in einer Rede auf den Punkt:
„Wenn wir anfangen, dabei mitzumachen, dass Fakten beiseite gewischt oder ignoriert werden können, dann sind verantwortbare und konstruktive Antworten in der Sache nicht mehr möglich.“
Dass dieses Zitat exakt die aktuelle Politik und insbesondere die Berichterstattung der öffentlich-rechtlichen Medien beschreibt, fiel offensichtlich niemandem weiter auf. Das Postfaktische ist seit längerem eine linksgrüne Weltsicht, in der Realitätsferne, Infantilisierung und Viktimisierung Hand in Hand gehen. So verschmelzen eine von allen realen Friktionen befreite Traumwelt, eine abgehobene moralische Attitüde, ein nur mühsam verdrängter Hass auf Andersdenkende und ein als Antirassismus getarnter Paternalismus, der im Fremden nur noch ein Opfer der Mehrheitsgesellschaft sieht, deren Rassismus täglich wie ein Katechismus angeprangert werden muss.
Wiederholten Aufrufe der Elite an das Volk mittels Durchhalteparolen
In einem früheren Essay auf der Achse habe ich versucht, den von Politik und Medien vorgegebenen Diskurs als eine geradezu pathologische Form der Realitätsverweigerung zu beschreiben, die, gepaart mit einer abstrakten Hypermoral und dem kulturell indizierten Selbsthass der westlichen Welt, den sogenannten Schutzsuchenden zum Heiligen verklärt und sich standhaft weigert, Wirklichkeit und Wunsch zu unterscheiden. Die heutige Situation erinnert so in bizarrer Weise an totalitäre Systeme, obwohl es selbstverständlich unsinnig wäre, die heutige Bundesrepublik mit der DDR, der Sowjetunion oder dem NS-Regime auf eine Stufe zu stellen. Vergleichen heißt nicht gleichsetzen.
Die Ähnlichkeit der rhetorischen Mittel – auf die volkspädagogischen Analogien werde ich in einem eigenen Artikel für die Achse noch eingehen – ist auf jeden Fall verblüffend. Das gilt vor allem für die wiederholten Aufrufe der Elite an das Volk mittels einfacher Durchhalteparolen („Wir schaffen das“) und für die „Phönix-aus-der Asche-Metapher“, die die momentane Krise nur als eine Art Examen für eine bessere Zukunft sieht. Exemplarisch dafür etwa eine Merkel-Rede zur Lage der Nation am 19. September 2016:
„Ich habe das absolut sichere Gefühl, dass wir aus dieser – zugegeben komplizierten – Phase besser herauskommen werden, als wir in diese Phase hineingegangen sind.“
Das erinnert an die Durchhalteparolen der Goebbelschen Propaganda in den späten Kriegsjahren. Aus jeder Niederlage sollte die Volksgemeinschaft gestärkt hervorgehen, jede verlorene Schlacht war nichts anderes als eine Prüfung auf dem Weg in eine strahlende Zukunft. Es stand zwar schlecht, es blieb aber der Glauben und das hehre Gefühl am Ende als Sieger der Geschichte in eine goldene Zukunft zu gehen. Oder in den Worten der unvermeidlichen Katrin Göhring-Eckardt:
„Unser Land wird sich ändern, und zwar drastisch, ich sag‘ euch eins, ich freu‘ mich drauf, vielleicht auch, weil ich schon mal eine friedliche Revolution erlebt habe. Dieses hier könnte die sein, die unser Land besser macht.“
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Foto: Gudmund Thai CC BY 3.0 https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=50946153
Dr. Alexander Meschnig ist Pädagoge und Psychologe mit Doktortitel, Politikwissenschafter und Publizist. Er lebt seit Anfang der 90er Jahre in Berlin. Quelle: AchGut http://www.achgut.com/artikel/das_postfaktische_und_seine_hohe_lebenserwartung