Beziehung und Demokratie

Gestern Abend führte ich ein Telefongespräch mit einer lieben Freundin. Mein Telefon ist übrigens aus den 80er Jahren, ganz banal, grau-beige, mit einem Hörer, der mit einem spiralförmigen Kabel mit dem Telefonapparat verbunden ist. Ich nutze mittlerweile auch wieder mein altes Tasten Handy. Die Welt wird mir zu komplex. Ich bin Mutter, freiberuflich tätig und arbeite für  verschiedene Institutionen als Trainerin und Coach. In einem dieser Kurse sitzen Menschen von 15 bis 55 und versuchen ihren Pflichtschulabschluss nachzuholen, im Rahmen eines Vorbereitungslehrgangs. Dazu werden sie von verschiedenen Trainerinnen und Trainern, vorwiegend ausgebildete Lehrer, unterrichtet. Ich bin keine ausgebildete Lehrerin. Ich bin laut formalen Anforderungsqualikfikationen von diversen Vorgaben des Staates Österreichs, wer wen unterrichten, begleiten und beraten darf, dazu nicht richtig ausgebildet, allerdings einsetzbar im sozialpädagogischen Kontext und in der "Lernbegleitung- und Lernermutigung".

Ich habe einen großen Vorteil: Ich bin in vielen Bereichen Autodidaktin, kann ein abgebrochenes Studium vorweisen, habe zahlreiche Aus-, Fort- und Weiterbildungen gemacht auf der Suche nach echtem, richtigen Lernen in Verbindung mit ermutigenden Lehrern und Menschen, die bereit sind, in kleinen Gruppen familiär zu arbeiten (so wie es früher mal im Rahmen einer Lehre war, jetzt möglicherweise nur mehr selten vorkommt, weil es kaum mehr kleine Handwerksbetriebe oder Gewerbebetriebe gibt). Das Zusammenleben und Zusammenarbeiten mit Menschen selbst hat mich besonders erfahren gemacht; so erfahren, dass ich irgendwann beschlossen habe, dass es nicht so wichtig ist, welche Noten meine Kinder von der Schule mit nachhause bringen, sondern dass es weitaus bedeutsamer und interessanter für ihren weiteren Lebensweg ist, WIE sie mit den Menschen an den pädagogischen Einrichtungen und Bildungsstätten auskommen, WAS sie aus den verschiedensten Situationen für sich mitnehmen (also lernen) und dass sie Kinder sind, die glücklich sind, zumindest grundsätzlich.

Ich bin - als Mutter von drei leiblichen Kindern und zwei sogenannten Bonuskindern - immer wieder überrascht, wie sie von Grund auf ihre Auseinandersetzungen und Konflikte lös(t)en. Als gefühltes Einzelkind (mein Bruder ist fast 9 Jahre älter als ich) kannte ich das nicht. Ich war oft genug schockiert über die, nun, sagen wir, ziemlich brutale, aber irgendwie doch sehr faire Art der Kommunikation untereinander und über ihren Umgang miteinander. Auf erstaunliche Art und Weise stelle ich fest, dass dieser martialisch anmutende "Umgang" untereinander mitunter recht gleichwertig ist/war; meist konstruktiv.  Vor allem die beiden älteren Söhne, mittlerweile recht jugendlich, gelten gemeinhin als "sozial kompetent" - die beiden hatten die heftigsten Auseinandersetzungen miteinander. Ich fühle mich als Mutter zwar geehrt, habe aber meines Erachtens wirklich nicht besonders viel dazu beigetragen. Müde, mich der dauernden Streitigkeiten anzunehmen, entschloss ich mich irgendwann einmal dazu, mantrenartig zu sagen: "Es ist mir egal, ob Ihr Euch einig seid oder nicht." Und dann verzog ich mich meist auf die Toilette, denn unparteiisch sein als Mutter, das fällt mir noch immer sehr schwer.

Was will ich damit sagen?

Ich als (gefühltes) Einzelkind und viele meiner erwachsenen Bekannten, Freunde und Arbeitskollegen - in Familien, Teams, usw. - müssen auf eine mühsame und doch sehr verkopfte Art trainieren, was wir gemeinhin als "gleichwertiges Streiten", als "Konfliktmanagement" oder "soziale Kompetenz im Team" bezeichnen. Ich kenne viele Menschen, die es vorziehen zu kündigen, als sich einem Konflikt zu stellen oder einfach die eigene Meinung preis zu geben. Wahrscheinlich nicht so sehr, weil sie nicht mutig genug sind, sondern weil sie oft nicht einmal spüren oder wissen, wie es ihnen tatsächlich geht. Meine Kinder und viele Kinder, die ich kenne oder mit denen ich arbeite, wissen jedoch meist sehr wohl, WIE es ihnen geht und WIE sie sich fühlen. Leider maßen wir Erwachsene uns nach wie vor an, unseren Kindern dabei zu helfen, Konflikte zu lösen. Und wir meinen auch zu oft, WIR müssten diese Konflikte lösen! Was natürlich zusätzlich gerne zu weiteren Konflikten beiträgt, nämlich zu inneren. Ach ja, und viele dieser "Konflikte" sind oft keine, sie sind nämlich meist banale Debatten, Auseinandersetzungen, Streitgespräche. Die mir als harmoniebedürftige Einzelkind aber genauso Stress und Spannung verursachen.

Aus den grundlegenden, angelegten Fähigkeiten meiner und dieser Kinder schließe ich, dass uns ein grundsätzlicher Wille zur Konfrontation, zur Aggression (aggredere, lat. - auf etwas zugehen, in Angriff nehmen) angeboren ist, dem einen mehr, dem anderen weniger, und weil der Mensch ein Gruppenwesen ist, dann eben auch in Gruppen verstärkt zum Tragen kommt. Aus diesem Trieb, nämlich, zu sich selbst zu stehen, sich als selbstwirksam, als wichtig, als zugehörig, als um seinen Platz auch kämpfend, als bedeutsam zu erfahren, entstehen dann Aus-einander-setzungen, Streits, in denen wir von Anfang eines lernen sollten: Es gibt keinen Gewinner, keinen Verlierer, einzig die Reibung zählt, die Energie, die in dieser Auseinandersetzung entsteht, und die so wichtig ist für unser Miteinander, dass wir wissen, woran wir sind. Wer sich noch ein bisschen tiefer einlassen mag: Birkenbihl, die bekannte, leider zu früh verstorbene Managmenttrainerin, pflegte zu sagen: "Wer sich länger als 5 Minuten über etwas oder jemanden ärgert, sollte genauer hinschauen, es hat meist viel mit einem selbst zu tun." Nun, so einfach ist es nicht immer. Allerdings kann ich bestätigen, dass wir nicht nur Auseinandersetzung im Außen haben und spüren, sondern auch Auseinandersetzung mit all den verschiedenen Anteilen und Prägungen, Wünschen, Realitäten und Erwartungen in unserem Inneren.

Wozu dann Beziehung und Demokratie?

Möglicherweise bedeuten Demokratie und politische Verantwortung: Streiten lernen. In Beziehung sein. Sich auf die Insel des Anderen einlassen (wollen, können, müssen, damit Zusammenleben funktioniert). Mut zum Ungehorsam haben, zu sich stehen, sich vom Anderen auch abheben (dürfen). Freiheit spüren. Selbstbestimmung leben. Verantwortung übernehmen. Mündig sein. Wissen: es braucht mich, damit das Ganze funktioniert, mich UND die anderen. Nicht entweder oder leben. Sondern sowohl, als auch. Alles hat Folgen, alles hat Konsequenzen. Das Fremde, Widersprüchliche, Konfliktbehaftete im Inneren annehmen lernen, mit ihm umgehen lernen. Selbstständig sein. Fehler machen. Unbedingt! Und am wichtigsten - Angst bewältigen lernen. Das wiederum gelingt mir nur, wenn ich mit mir in Beziehung stehe, mit den Anderen, und meine Angst nicht abspalte von mir. Geschlossene Gehäuse von Fremdenfeindlichkeit, Abwehr, Nationalismus und Patriotismus schützen uns nicht, sie bewahren nicht unsere Sicherheit und unsere "Heimat". Nur die kritischen, mutigen, konflikt- und auseinandersetzungsfreudigen Eigenschaften helfen uns dabei, unser kritisches ICH zu stärken (Ja, wirklich, Kinder brauchen das!!!).

Was also jetzt?

Alles Beunruhigende, Chaotische, fern jeder Norm Wirkende... ja, ich würde sagen, sogar "Wilde" (ob weiblich, oder männlich, das spielt keine Rolle) darf nicht weggesperrt und ausgeklammert werden. Die Welt ist voll mit Grenzverletzungen, Raumüberschreitungen, Widersprüchlichkeiten, voll mit Konflikten, politisch Unkorrektem, voll mit dem, was misslingt, mit Fehlern, mit Dingen, die nicht funktionieren und mit Menschen, die versagen. Ordnung und Chaos, Tag und Nacht, Mann und Frau, Schwarz und Weiß,… - das "und" ist das Entscheidende. Wenn Erziehung Beiträge leisten kann, auch hinsichtlich der momentanen politischen und gesellschaftlichen Zustände unserer Welt, unserer "Gesellschaft", dann so: Ermutigung zum aufrechten Gang. Ermutigung zur Selbstständigkeit. Ermutigung zum Engagement. Ermutigung zur Auseinandersetzung mit sich und mit der Welt.

Damit der Kreis sich schließt: Es gibt viele, zu viele, in diesen eingangs erwähnten Kursen, die die Ermutigung zum aufrechten Gang nicht erfahren haben, auch nicht die Ermutigung zum Selbstständig-Sein und zum anders Sein und zur Auseinandersetzung. Es mag zusammen hängen damit, ist aber natürlich nur eine Interpretation meinerseits, dass genau diese Menschen, egal ob jung, alt oder gerade mal 30, 40, sich nicht für Politik interessieren, auch nicht unbedingt dafür, wie viele Flüchtlinge zu uns kommen und dass überhaupt welche kommen. Sie interessieren sich nämlich nicht mal richtig für sich selbst, für ihren Abschluss, für ihre Zukunft. Sie haben was sie "brauchen": Smartphone, Laptop, Fernseher, ein Fortbewegungsmittel. Sie können billigst "coole" in China produzierte Kleidung und Schuhe kaufen. Sie erfahren genug Ablenkung durch alle möglichen und unmöglichen Medien und genug Entwertung, um keinerlei Mühen anzugehen, ihre scheinbar sichere und illusorische Komfortzone zu verlassen, die durchaus berechtigt ist angesichts der Tatsache, dass es bereits viele Erwachsene in ihrem Leben gab, von denen sie sehr enttäuscht wurden. Ich hoffe, ich werde jetzt nicht falsch verstanden: Diese jungen Menschen haben nicht unbedingt ein Zuwenig an Beziehung erfahren, wohl aber ein Zuwenig an der Bereitschaft, dass sich jemand voll eingelassen hat, sie zu konfrontieren mit ihrer Verantwortung, ihren Grenzen und ihren eigenen Fehlern. Die meisten von ihnen wurden eher geschont - nämlich hinsichtlich der Tatsache - teilzunehmen, zu partizipieren, ihre Selbstwirksamkeit durch Engagement und Taten zu erfahren.

Konfrontation und Aggression im positivsten Sinne.

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fischundfleisch

fischundfleisch bewertete diesen Eintrag 14.12.2015 23:17:13

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