Beim Lesen dieser Meldungen verdichten sich zahlreiche Erinnerungen: an meine Kindheit, an meine Jugend, an meine beruflichen Tätigkeiten. Sexualität an sich ist ja schon ein pikantes und komplexes Thema und jetzt steht es auch noch in Zusammenhang mit der gesamten Flüchtlings- und Asylproblematik. Beim Lesen diverser Meldungen stelle ich fest, dass wohl jede und jeder auf ihre und seine Art und Weise Recht hat, denn wir alle haben unsere speziellen Erfahrungen, und die kann uns keiner absprechen. Zum Thema sexuelle Übergriffe kann wohl fast jede Frau etwas sagen…egal, ob es sich dabei um Erfahrungen mit sogenannten Einheimischen, mit Ausländern, Verwandten, Bekannten, Freunden, Unbekannten usw. handelt.

Als Kind habe ich meine eigene Einsicht gewonnen: so interessant alles, was mit Sexualität in Zusammenhang stand, war, so gefährlich und tabuisiert war es zugleich, zumindest in den 70ern und 80ern. Und Übergriffe kamen nicht nur von Gleichaltrigen, Älteren, Jungscharführern, guten Bekannten, sondern auch später, während meiner Jobs als Studentin von gut Situierten, Betrunkenen, Befreundeten, Pensionisten…ich spreche nicht nur von mir selbst, sondern auch von Freundinnen und von vielen, vielen Frauen, die ich in zahlreichen Aus- und Weiterbildungen seit Jahren als Trainerin und Beraterin begleite.

„Organisierte“ Übergriffe, wie in Köln, wahrscheinlich befeuert durch ein Massenbesäufnis, sind für mich als Frau allein von der Vorstellung her beängstigend. Mag sein, dass es „nur“ Deutsche waren, mag sein, dass es „nur“ Männer mit Migrationshintergrund waren, mag sein, dass es Deutsche und Nordafrikaner und Muslime waren. Ich weiß es nicht, ich war nicht dabei, allerdings meide ich derartige Massenzusammenkünfte ohnehin seit Jahrzehnten. Möglicherweise sind die „Aufrufe“ der deutschen (linken?) Politikerinnen ein Versuch, etwas einzugrenzen und auszudrücken, was ihnen selbst als junge Mädchen „überliefert“ wurde?

Zum Frau Sein nicht stehen, das könnte gefährlich werden. Abstand halten. Eventuell auch weite Kleidung tragen? Unter Umständen ist es gut, sich gar nicht mehr als Frau zu erkennen zu geben?

Wie ist das denn dann mit dem Nein sagen? Mit dem laut Schreien, wenn was nicht passt? Mit dem völlig Auszucken, um sich schlagen, wenn der eigene Raum verletzt wird, wenn es zu Übergriffen kommt? Wie ist es mit Kratzen, Zwicken, Beißen, wütend Stampfen, Nein brüllen aus Überzeugung, wenn etwas passiert, was echt Scheiße ist? Wie ist das denn mit der Wut überhaupt in unserer Kultur?

Und mit dem Annehmen, wenn jemand anderer Meinung ist?

Werden wir dann nicht sofort verrissen, ausgestoßen, in eine Ecke gedrängt, diskriminiert, verteufelt, als schlecht oder unsympathisch oder unsozial verurteilt?

Wie weit dürfen Menschen in unserer Kultur ausdrücken, was ihnen gegen den Strich geht, ohne für politisch unkorrekt oder gar verrückt gehalten zu werden?

Eines weiß ich mit hundertprozentiger Sicherheit: ich selbst wurde als Frau nicht zum Nein sagen sozialisiert und frech sein war in meiner Zeit als Kind tabu, wie auch die Themen Geld, Sex und Tod. Und ich weiß, dass ich alles darüber wissen wollte, so bald wie möglich. Und ich weiß, dass ich dabei oft in gefährliche Situationen geraten bin – aus Neugierde, aus Abenteuerlust, aus der Lust am Ungehorsam Sein, aus Naivität.

Ich wusste zu wenig über „diese“ Dinge. Wenn wir unsere Kinder, Mädchen oder Jungen, vorbereiten wollen auf die Welt draußen, dann sollten wir uns auch bewusst sein darüber, wie wichtig folgendes ist:

Wir sollten uns als Erziehende, als Pädagoginnen und Pädagogen so schnell wie möglich überflüssig machen: das heißt, „Hilf mir, es selbst zu tun“, in welcher Hinsicht auch immer, hat auch eine politische, emanzipatorische Bedeutung. Kinder, die die Erfahrung gemacht haben, dass sie selbst es können, selbstwirksam sind und jede Gelegenheit beim Schopf ergreifen, kreativ Gelegenheiten zu nutzen, selbst zu handeln, sind geschützt davor, unterdrückt und abhängig gemacht zu werden.

„Nein“ sagen lernen, viel mehr noch - es konsequent zu üben, ist eine wesentliche, unabdingbare Voraussetzung dafür, dass wir auch lernen, uns selbst zu achten. Wer Nein sagen kann ohne Angst, dafür nicht (mehr) geliebt zu werden, der oder die fürchtet sich auch nicht davor, stark, unabhängig und autonom zu sein. Übrigens, ich bin überzeugt davon, dass wir erst dann wirklich fähig sind zur KOoperation, wenn wir gelernt haben, ohne Angst NEIN zu sagen.

Jedes Kind kann nur Selbstachtung gewinnen, wenn es lernt, selbst Entscheidungen zu treffen, selbst zu handeln und selbst Erfolge und Misserfolge zu verarbeiten. Damit meine ich aber auch: jedes Kind muss dabei lernen, dass es bei diesem Handeln Grenzen gibt, und dass die Erwachsenen, die es liebt, auch ihre Grenzen haben. Und genau diese Basis von Liebe, Zuwendung mit den Erfahrungen von sich ablösendem Selbstständig Werden ist die Kunst in der Erziehung.

Sexuelle Gewalt ist durch nichts zu rechtfertigen.

Und doch passiert sie – zu oft, seit ich denken kann.

Gut erinnere ich mich an die Geschichten meiner Großmütter, die von „den Russen“ erzählt haben… Und gut erinnere ich mich an die Geschichten vieler anderer Frauen. Es gibt kaum eine, die nicht schlechte Erfahrungen hat mit dem Thema Sexualität an sich: Grenzüberschreitungen, Übergriffe, Vergewaltigung, Missbrauch, Schwangerschaftsabbrüche, Diskriminierungen, …verbal, körperlich, beruflich, wie auch immer.

Letzten Endes geht es um Männer und Frauen, wie sie miteinander umgehen, wie sie miteinander leben und wie sie miteinander die Welt gestalten. Es geht wohl auch darum, demokratische Prinzipien auf Gedeih und Verderb zu erörtern, darum zu streiten, sich dafür einzusetzen, Mut zum Ungehorsam zu verbreiten und Zivilcourage zu leben, sich nicht anzupassen, um des sogenannten lieben Friedens willen. Es geht auch darum, sich vehement gegen jede Form des Drängens in eine Opferrolle zu verwehren. Das verschlimmert die Situation nur – und die Spaltung in „Weiblich“ und „Männlich“. Es geht ums Sowohl- Als auch.

Last not least, ja, leider, muss ich das auch so sagen, mit all meinen Erfahrungen als Frau, als Mensch, als liebendes, fühlendes und denkendes Wesen: eine sehr schwerwiegende Seite der Welt ist wirklich auch schlecht, ungerecht, voller Grausamkeiten und ich könnte wohl tagelang, nein, wochenlang über ihren Zustand und über das Verhalten unserer Mitmenschen weinen.

Viele Menschen sind eben gleicher.

Das ist aber nicht seit dem Kapitalismus so, oder im Islam, oder seit dem Feminismus. Das bringt das Mensch Sein mit sich, seit tausenden Jahren.

Mit unserem Schicksal, dass das Leben an sich lebensgefährlich und viele Menschen in dieser Welt gewalttätig, grausam und übergriffig sind, müssen wir uns wohl als Menschen überhaupt auseinandersetzen - mit oder ohne Gesetze. Dieses Dazwischen, dieses „grenzenlos glücklich, immer in Schwierigkeiten, absolut furchtlos“, wie Dorothee Sölle, die christliche Mystikerin, es ausdrückte – dieses Dazwischen, das müssen wir wohl oder übel lernen auszukosten, wahrscheinlich ein Leben lang. Mit allem, was (nicht) dazu gehört. Wer einfache Lösungen will, für den ist die Demokratie mit Sicherheit nichts. Und wer die Demokratie mitgestalten will, der muss streiten lernen, ohne Gewinner oder Verlierer zu sein, sondern aus der Freude an der Auseinandersetzung, an der Reibung, an der Nähe, die dadurch auch entstehen kann. Wer helfen will, dass sich unsere demokratischen und humanistischen Werte durchsetzen sollen, der soll menschenverachtende, manipulierende Inhalte, die vor allem in den Massenmedien und sozialen Netzwerken transportiert werden, aufdecken, der muss „es“ ansprechen, unsere Kinder und Jugendlichen miteinbeziehen, sagen, was und wie es ist.

Lebendig sein und mitmenschlich sein bedeutet auch, die Dinge beim Namen zu nennen und verdeckte, autokratische oder diktatorische Werte zu entlarven. Werte und Prinzipien, die unsere Selbstachtung und unsere Autonomie gefährden.

Vor allem müssen wir solchen Tätern oder Gruppierungen, und das ist das Schwierigste überhaupt, die öffentliche massenmediale Aufmerksamkeit entziehen.

Wer mit solchen Menschen zu tun gehabt hat, weiß, wie hoch der Genuss der (negativen) Aufmerksamkeit und Zuwendung für diese Menschen ist. Wie das gelingen kann, weiß ich nicht.

Die, die am allermeisten davon profitieren, die wüssten es bestimmt.

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