Pädagogik ist definitiv ein weiterer Wirtschaftszweig geworden. Vor einigen Tagen fand ich in meinem virtuellen Briefkasten eine Nachricht: "Liebe Kolleginnen, (ich bin keine Pädagogin, allerdings bin ich in diesem Bereich seit vielen Jahren unter anderem tätig) brauchen Sie ein neues Handwerkszeug für die Pädagogik des 21. Jahrhunderts?" Nun, ja, eigentlich, wieso nicht...ich bin ein neugieriger Mensch und lese weiter. Es folgen kurze Erklärungen, was das Angebot dieses neuen Lehrgangs - Bezeichnung XY Pädagogik - beinhaltet, unter anderem auch den Hinweis, dass die Anwenderinnen und Anwender dieser neuartigen Form der Pädagogik definitiv eine Methode oder besser, eine Technik erhalten würden, um Kinder optimal begleiten zu können und sie bei der Entwicklung ihrer Potentiale zu unterstützen. Ja, mit genau dieser Technik würden wir sogar erfahren, WIE und WO die Kinder bestmöglich zu fördern seien, denn man könne mithilfe des Geburtsdatums einiges "errechnen" und erfahren mithilfe einer Chart. In diesem Kurs würden wir lernen, diese Chart zu lesen. Angehängt finden wir dann noch Hinweise zum Bildungsrahmenplan sowie ein bisschen "Selbsterfahrung" zum Drüberstreuen.
Bitte, liebe Leserinnen und Leser, verstehen Sie mich nicht falsch. Ich freue mich über neue Erkenntnisse, Methoden und Techniken. Ich selbst bin ein Fan des Weltbestsellers "Simplify Your Life", einfach, weil ich manchmal an der Komplexität unserer Welt verzweifle...allerdings bin ich alt/erfahren/geschäftstüchtig genug, um zu wissen, dass die meisten dieser wunderbaren Ratgeber zum Glück nicht funktionieren. Zum Glück für die "Erfinder" (die können dann gut daran verdienen und davon leben, und ich gönne ihnen das von Herzen, wirklich!) und zum Glück für uns: denn wir selbst sind unter Umständen dazu geboren, um ein Leben lang herausfinden zu können, was in uns steckt. Sonst wäre das Leben doch langweilig, oder?
Nun, ich habe das Angebot der neuartigen XY Pädagogik durch- oder vielmehr weitergedacht. Stellen Sie sich vor, Sie arbeiten in einem Betrieb und Ihr Chef kommt auf Sie zu und präsentiert Ihnen die supertolle Megachart über Ihr Entwicklungspotential um Ihnen dabei zu helfen, dass Sie sich bestmöglich entfalten. Er schlägt Ihnen sozusagen vor, was Sie tun sollen und versetzt Sie daraufhin auch in eine neue Abteilung, damit Sie dort schon mal gut starten können. Oder Ihr Partner kommt nachhause, freudestrahlend und erklärt Ihnen, er wisse jetzt wirklich total gut über sie Bescheid, über Ihre Stärken, Ihre Schwächen, Ihre Vorlieben, Ihren innersten Kern, Ihre verborgenen Talente...
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Für mich persönlich würde hier die Gleichwertigkeit, sofern überhaupt vorhanden, enden.
Ich würde mich aufgedeckt fühlen, egal, ob nun von Schwächen, Stärken oder was weiß ich die Rede wäre. Ich mag es nicht, wenn jemand anders mehr über mich weiß als ich selbst. Außer ich bezahle ihn dafür - als Berater, Coach, Trainer oder Therapeut, allerdings sind die Grenzen zur Belehrung dünn, und die "horizontale" Kommunikation, also die Fähigkeit, gleichwertig miteinander zu reden, ist schwierig genug. Nun, wie mögen sich Kinder dabei fühlen? Wir kommen, wissen über sie Bescheid, helfen ihnen dabei, ihr bestmögliches, vollstes, maximales Potential aus sich selbst herauszuholen...ich finde, es klingt verdammt gefährlich. Ich finde, es klingt nach Manipulation. Zumindest hört es sich so an, als wüßte da jemand viel besser Bescheid über mich als ich selbst. Und als würde dieser Jemand sich über mich erhöhen um mich zu lenken, in eine bestimmte Richtung zu bringen, die ihm oder ihr anhand einer Rechnung, eines Programms, einer Heilslehre richtig oder besonders gelungen erscheint...Es erinnert mich ein klein wenig daran, hübsche, kleine Bäumchen zu züchten, an ihnen herum zu schnippeln, sie mit dem besten Dünger zu versorgen, damit...ja, was eigentlich? Damit WAS oder WER aus diesen kleinen Bäumchen wird?
Ich meine, diese pädagogischen Spielchen oder Marktnischen sind entwürdigend. Entwürdigend für das Kind selbst, das somit zum Gegenstand wird pseudowissenschaftlicher Untersuchungen. Der Hintergrund mag durchaus wohlwollend sein: Kinder brauchen die bestmöglichen Entwicklungsbedingungen und Rahmenbedingungen. Kinder brauchen Erwachsene, die sie mitunter auch führen, auf alle Fälle begleiten und für sie da sind. Ich bin aber überzeugt davon, dass Kinder eins nicht brauchen: jemanden, der weiß, wo ihre verborgenen Talente und Fähigkeiten liegen. Denn wozu gibt es das Leben selbst? Und ist nicht das Kind, die Kindheit selbst, ein großes Geheimnis? Ebenso, wie ich der Meinung bin, dass wir auch einen ungeborenen Fötus nicht ununterbrochen durchleuchten sollten anhand neuester Untersuchungsmethoden (vorausgesetzt, es gibt berechtigte medizinische Gründe dafür), so bin ich auch der festen Überzeugung, wir sollten eins nicht tun: unseren Kindern auch das noch rauben, was sie ausmacht - den Wert Kindheit an sich be-werten, be-urteilen, ein-teilen und kategorisieren. Vielleicht gibt es Menschen, die ihr bestmögliches Potential nicht ausschöpfen wollen? Vielleicht gibt es Menschen, die vor allem Vertrauen brauchen in sie, in ihre Entwicklung, in ihren Wesenskern, in ihr Da-Sein.
Viele pädagogische Richtungen werden zum Teil so vermarktet, dass ich mir nicht mehr sicher bin, wer am meisten davon profitieren soll. Die Kinder? Ich bin dafür, dass alle, die sich mit Kindern ernsthaft beschäftigen und auseinandersetzen, bei sich selbst und bei ihrem eigenen Potential beginnen sollen. Und dabei bleiben. Als Modell fungieren wir ohnehin. Doch wir lassen unseren und allen Kindern, die wir begleiten, die Freiheit, selbst zu entscheiden in welchem Tempo sie sich selbst, ihre Potentiale, ihre Fähigkeiten, ihre Kräfte und ihre Wesenzüge entwickeln und entfalten. Der Impuls sollte immer noch vom Kind selbst kommen, und wir sollten lernen, darauf zu horchen und einen aufrichtigen Dialog zu führen, ohne Methoden, Techniken und Programme dafür in Anspruch nehmen zu müssen. Erziehung ist Be-ziehung. Und die kann nicht gelernt werden, die kann nur gelebt werden. Dabei lernen wir dann ohnehin viel, unglaublich viel.