Enrico Bergmann
Gesetzgeberische Regulierungssucht bei gleichzeitiger Durchsetzungsschwäche
Seit der Steinzeit werden in Europa Zählstriche in Fünferbündeln aufgeschrieben (vier senkrecht nebeneinander, der fünfte diagonal darüber). Wer mehrere solcher Einheiten auf einem Blatt darstellt, eine Transparentfolie darauf legt und weitere Geraden in Fortsetzung und gleicher Weise beifügt, wird auf eine gewisse Distanz nicht sagen können, was auf dem ursprünglichen Blatt und was auf der Folie steht. Eine bestimmte Ordnung wird eingehalten.
Mit diesem einfachen Experiment lässt sich nachweisen: Vor einem gegliederten Hintergrund fallen chaotische Elemente auf. Das ist bei der menschlichen Gemeinschaft nicht anders. Aus diesem Grund wählen Menschen, die Ungutes im Schilde führen, vorzugsweise Umgebungen und Gesellschaften, wo die öffentliche Ordnung bereits gestört ist. Parteien, die an den Randzonen ihrer Zugehörigkeit Individuen gewähren lassen (auch wenn sie es offiziell abstreiten), die es mit der Einhaltung geltender Gesetze nicht so genau nehmen möchten, machen sich mitschuldig. Darum sollten an einem Erst-Mai–Umzug vermummte Gestalten, die andernorts Autos abfackeln oder zu RAF-nahen Kreisen gehören, nicht mitmarschieren dürfen. Die beiden Extreme, strengste Disziplin und totales Chaos, trennen Welten.
Es lohnt sich auch zu "Friedenszeiten" genau hinzuschauen, welche Parteien aus dem linken oder rechten Spektrum ein "Tapetenmuster" liefern, vor dessen Hintergrund Extremisten wie in einem Vexierbild "verschwinden". Kafka definierte das Phänomen wie folgt: "Das Versteckte in einem Vexierbild ist deutlich und unsichtbar. Deutlich für den, der gefunden hat, wonach zu schauen er aufgefordert war, unsichtbar für den, der gar nicht weiß, dass es etwas zu Suchen gilt.“ Mit anderen Worten: Wer absichtlich oder – nach eigenen Angaben – unwissentlich einen entsprechenden Hintergrund liefert, ist a priori hochverdächtig. Das kann bei Parteien, aber auch bei Religionsgemeinschaften der Fall sein.
Niemand wünscht sich eine uniformierte zivile Gesellschaft, in der es zugeht, wie auf einem Kasernenhof. Die gegenwärtige Tendenz zeigt aber eindeutig in die andere Richtung: Alles ist erlaubt.
Als ich ein Kind war, musste unsere Mutter auch oft mit uns schimpfen; wegen unserer Unordnung im Kinderzimmer. Wenn das nicht wirkte, hatte sie ihre eigene Art, für Abhilfe zu schaffen. Sie besorgte sich eine Pappschachtel, warf Umherliegendes hinein, verschnürte und beschriftete sie: »Allerlei Kram« und versorgte sie auf dem Dachboden. Die Methode war ziemlich wirksam.
Neulich hörte ich von Wohnblocks, wo die Verwaltung das Durcheinander in Einstellräumen auf gleichartige, jedoch drastischere Weise zu bekämpfen versucht. Grundsätzlich sind Gegenstände wie Fahrräder, Kinderwagen, Skis und Ähnliches im dafür vorgesehenen Gebäudeteil zulässig, müssen aber mit einer vom Hausmeister angebrachten Nummer versehen sein. Aufgrund der Nummernliste wird der Besitzer herausgefunden und ermahnt. Unnummerierte Objekte entsorgt die nächste Sperrmüllabfuhr.
In Schweizer Städten fühlen sich Fußgänger je länger je mehr bedroht, weil Rollbrett-, Rollschuh- und Velofahrende Gehwege und Zebrastreifen mitbenutzen. Ja, Signaltafeln fordern sie dazu auf.
Bis 2011 war in der Schweiz eine Velovignette (zuvor metallene Velonummer als zusätzlicher Rückstrahler) obligatorisch. Damit war eine Haftpflichtversicherung verbunden, die von Fahrrädern angerichtete Schäden bis zu einer Million Franken deckte. In einem Land, wo sogar jede Menge Sozialbezüger weiterhin ein Auto ihr Eigen nennen dürfen, kann man sich vorstellen, welche Schwierigkeiten ein Fußgänger hat, wenn er von einem Drahtesel-Rowdy angefahren wird. Kinder und gehörlose Alte dürften bevorzugte »Zielscheiben« sein.
Bleiben noch die alpinen Routen? – Weit gefehlt! Mountainbiker rasen selbst Firstwege hinunter, wo die überholten Wanderer kaum Platz finden, zur Seite zu stehen, da links und rechts der Sturz in den Abgrund droht.
http://www.srf.ch/news/schweiz/dichtestress-auf-wanderwegen-wegen-mountainbike-boom
Gewisse Gemeinden haben eine ideale Lösung gefunden, damit künftige Statistiken nicht mehr so viele auf Zebrastreifen überfahrene Fußgänger ausweisen: Die Markierungen wurden mit schwarzem Bitumen überstrichen, die geschützten Übergänge aufgehoben!
Zum gemischten Verkehr auf Autobahnen habe ich mich schon in meinem Artikel »Zu billiger Warentransport auf der Straße tötet Menschen!« geäußert.
Wo und wenn sich die Behörden nicht mehr durchsetzen können, wird erlaubt oder sogar empfohlen, das früher Verbotene zu tun. Irgendwie erinnert dies an den König in »Der kleine Prinz« von Saint-Exupéry!
Was im Kleinen gilt, wird dem Trend der Zeit folgend, in der »großen« Politik nachvollzogen. Die ganze Reaktion besteht aus schicksalsergebenem Schulterzucken. Das Abendland ist lernfähig. Inschallah!
Im Zusammenhang mit den Verträgen von Locarno (1925) stellten die westlichen Alliierten nach Vertragsabschluss die wirksame Überwachung der deutschen Abrüstung langsam ein und ersetzten sie 1927 durch eine fiktive Kontrolle seitns des Völkerbunds. Dieser aber konnte sich nicht durchsetzen. Deutschland rüstete wieder auf; auch 2016 ein aktuelles Thema!
Ein wirksamer Einsatz von UNO-Truppen an allen Brennpunkten der Erde, um Schwellbrände im Keime zu ersticken, ist nicht möglich. Vetorechten sei Dank!
Einen Schildbürgerstreich erster Güte leisteten sich die Europäer: Aufhebung der inneren Grenzen vor Aufbau einer wirkungsvollen Kontrolle und Verteidigung der Schengen-Außengrenze. Wir schaffen was!
Wes Geistes Kind?
Das sichtbarste Symptom für die gesetzgeberische Regulierungssucht bei gleichzeitiger Durchsetzungsschwäche sehen wir bei der Vermüllung der Umwelt.
Menschen kapseln sich von andern ab, mit Ohrenstöpseln (angeblich zum Musik hören oder was sie als solche bezeichnen). Weitere Markenzeichen: Kaugummi oder Zigarette im Mund, Smartphone im Blickfeld. Reelle und virtuelle Welt verschmelzen. Frei gewählter "Autismus"? Ein Fall für den Psychiater.
Denkbare Gründe sind: Gedankenlosigkeit, Mangel an (Selbst-)Disziplin, fehlende Kinderstube, Rücksichtlosigkeit. Letztlich sind die Auswirkungen ebenso schlimm wie jene von Dummheit oder Boshaftigkeit. Sie gehen von Menschen aus, die zwar Rechte für sich und ihresgleichen einfordern, von Pflichten jedoch nichts wissen wollen.
Kaugummi kauen heute nicht G. I., die hinter der Front mit Fallschirmen in Feindesland abgeworfen werden. Die Zigarette hat mit Tabakgenuss etwa gleichviel zu tun, wie das sich Zudröhnen mit sinnverwirrenden Lichteffekten und organisiertem Lärm von 100 Dezibel. Damit gehen vor allen Dingen Selbstdisziplin und Hygiene (auch die mentale) verloren. Die gesundheitlichen Spätfolgen wird dann wiederum die Gesellschaft übernehmen müssen.
Wenn Kleinkinder (nach ihrem Empfinden) ungenügend Aufmerksamkeit oder Zuwendung erhalten und »Bravsein« nicht zum Erfolg führt, probieren sie, durch negatives Verhalten zum Ziel zu gelangen. Sind Halbwüchsige oder Erwachsene jeden Alters, die das gleiche tun, geistig bei ca. 3- bis 4-Jährigen stehen geblieben? Wrumm - wrumm! Nuggi - Nuggi!
Das – ohnehin nur unvollständig erreichbare – Beseitigen der Vermüllung im öffentlichen Raum kostet die Schweiz jährlich zweihundert Millionen Franken! Dabei sind hier längst nicht alle Kosten eingerechnet. Der Bauer muss seine elendiglich an verschlucktem Abfall verendete Kuh selbst bezahlen. DNA-Spuren oder Fingerabdrücke an einer weggeworfenen Bierbüchse werden wohl kaum mehr auszumachen sein.
In den Fünfzigerjahren des letzten Jahrhunderts konnte man in Tram- und Eisenbahnwagen Anschriften lesen wie: »Bitte nicht auf den Boden spucken!« – »Keine festen Gegenstände aus dem Wagenfenster werfen!« usw. Sogar mehrsprachig. Beispielsweise »Ritirata nel vagone« (Abtritt im Wagen). Sie ließen Rückschlüsse auf das zu, was offenbar Jahre zuvor geschehen konnte, nämlich, dass jemand auf den Boden spie, eine leere Flasche aus dem (dazumal noch zu öffnenden Fenster) warf, seine Notdurft in einer Ecke des Eisenbahnwagens verrichtete. Damals schien uns ein solches Verhalten als absolut unglaublich. Wir hätten nicht ausgeschlossen, dass, jemand, der sich einer solchen Schandtat schuldig gemacht hätte, an der nächsten Station von den übrigen Passagieren hinausbefördert worden wäre. Mit Sicherheit würde man den Schaffner herbeigerufen haben.
Heute sind wir bald wieder so weit. Mit dem Unterschied, dass ein aufbegehrender Passagier oder der Kontrolleur das Risiko auf sich nähme, tätlich angegriffen zu werden.
Macht man sich schon eines rassistischen Delikts schuldig, wenn man darauf hinweist, dass das Spucken auf den Boden in der Schweiz von einer ersten Migrantenwelle in den Neunzigerjahren wieder eingeführt wurde, von Einheimischen bald einmal imitiert?
Ist es Zufall, dass heute zu den größten Verschmutzungsproblemen jene gehören, die mit Anfang und Ende (des menschlichen Verdauungstraktes) zu tun haben? Kaugummi, Zigarettenkippen, Essensreste, Getränkeverpackungen. Sputum einerseits, Blasen- und Darmausscheidungen andererseits?
Zusammen mit meiner Frau sitze ich auf einem Bänklein an der Seepromenade von Locarno. Ein 16- bis 18-Jähriger trinkt seine Büchse mit einem Sodagetränk leer und lässt sie zu Boden fallen. Ehe ich mich zurückhalten kann, rufe ich ihn zur Ordnung: »He!« Schulterzuckend schlendert er davon.
»Du kannst noch froh sein, hat er dich nicht zusammengeschlagen!«, kommentiert meine Frau den Vorfall. Zweimal ist mir dies nämlich schon passiert.
Richtig. Einmal wurde ich tätlich angegriffen, als ich nicht einsah, weshalb ich auf einem – mit einem allgemeinen Fahrverbot signalisierten – engen Waldweg einem Radfahrer hätte ausweichen sollen. Ein anderes Mal wäre ich glatt auf dem Trottoir überfahren worden, als ein Automobilist, aus einem Parkplatz retourfahrend, mich übersah. Durch Klopfen auf das Wagenheck gelang es mir, mich rechtzeitig bemerkbar zu machen, doch glaubte er hinterher, ich hätte sein Fahrzeug beschädigt.
Früher war nicht alles besser. Aber tanzte jemand in grober Weise aus der Reihe, brachten die Passanten ihre allgemeine Missbilligung lautstark zum Ausdruck.
Eine Lösung böte vielleicht das Prinzip
Middleborough’s Talking Cameras
»Würde der junge Mann mit der NY-Baseball-Mütze bitte die eben weggeworfene Büchse aufheben und im Abfalleimer, etwa vier Meter links von ihm, entsorgen? Danke!«
»Würde der Herr im grauen Mantel, der soeben seine Zeitung auf den öffentlichen Müllcontainer gelegt hat, diese in den seitlichen Schlitz werfen? Danke!«
Die meisten in ähnlicher Weise Angesprochenen (und zugegebenermaßen, aber auch verdienterweise) bloßgestellten Umweltsünder folgen solchen Aufforderungen unter den Blicken der amüsierten Passanten auf der Stelle. Es könnte ja sein, dass in der Nähe eine Polizeipatrouille darüber wacht, ob der Aufforderung nachgelebt wird.
https://www.youtube.com/watch?v=IGPgPlt2TFI
Dass ausgerechnet Grüne und Linke jene sind, die Zeter und Mordio schreien, wenn irgendwo eine Überwachungskamera aufgestellt wird, ist enttäuschend. Ich stelle mir die Frage der Redlichkeit!
Da ist dann gleich von Schnüffelstaat und Orwells »Big Brother is Watching You« die Rede. Womöglich haben sie den Roman »1984« gar nie gelesen. Sonst wüssten sie, dass es darin um etwas ganz anderes geht.
Wer sich nichts zuschulden kommen lässt, hat auch nichts zu befürchten. Wer unschuldigerweise eines Verbrechens angeklagt wird, wäre wohl froh, wenn die Aufzeichnung einer Überwachungskamera seinen Aufenthalt an einem anderen Ort dokumentiert hätte.
Außer dem Straßen-Radar sollte es längst eine zeit- ein Lärm ortendes und registrierendes Gerät geben.
Fährt beispielsweise ein Motorrad oder Sportwagen mit 120 km/h, aber 140 Dezibel morgens um drei auf der Autobahn durch eine Agglomeration und weckt dabei ein paar Hunderttausend Schläfer, reagiert die Radarfalle nicht. Mit einem Netz von Mikrofonen ließe sich ein bestimmtes Lärmmuster durch eine ganze Stadt verfolgen. Ein zentraler Computer wäre imstande in Sekundenbruchteilen eine vergleichende Geräuschanalyse zu erstellen, beispielsweise die Angabe der vom fehlbaren Lenker vermutlich anvisierten Richtung und des geeignetsten Ortes, an dem der Fahrer aus dem Verkehr gezogen werden könnte. Auch Schallmuster einer Schießerei könnten unverzüglich bei der Polizei einen gezielten Alarm auslösen, und zwar praktisch in Echtzeit, statt erst nachdem ein Nachbar umständlich die Polizeizentrale telefonisch avisiert hat.
Damit das gleich klar ist, es geht hier nicht um einen »Lauschangriff«, bei dem Gespräche von Personen auf Distanz abgehört werden könnten, sondern um alles, was über einen bestimmten Lärmpegel hinausgeht. Typische akustische Muster ließen auch Rückschlüsse auf bereits stattgehabte oder im Moment vorgehende negative Ereignisse zu (z. B. das Geräusch zwei ineinander knallender Straßenfahrzeuge, Notschreie zu nächtlicher Stunde usw.).
Wer sich schon mal etwas eingehender mit den fünf Sinnen des Menschen befasst hat, wird festgestellt haben, dass der Gehörsinn in der Regel dem Gesichtssinn vorausgeht (man hört Lärm und schaut hin). Von Blinden sagt man, sie seien aufmerksamere Hörer. Das Umgekehrte trifft leider nicht zu. Wer an Taubheit leidet, sieht deswegen kaum besser.
Detektoren, die beim Vorhandensein einer nicht plausiblen Metallmenge anschlagen und weitere künstliche Sensoren für beim Menschen verkümmerte, ja nicht vorhandene Sinne könnten möglicherweise die Präsenz gefährlicher Materialien oder Stoffe melden: eine unter dem Mantel verborgene Kalaschnikow, einen Sprengstoffgürtel usw. Auch aufgrund gewisser Wärmebilder wären verdächtige Personen auszumachen.
Ach ja, noch zur Rechtfertigung der Stichwörter: Mit Zigarettenkippen und anderem Müll durchsetzte Bausande gilt es zu reinigen bzw. zu ersetzen. Bei Sandplätzen für Kleinkinder sind sie geradezu gefährlich.
Was Pumpenlack anbetrifft: Pumpen bestehen oft aus Grauguss. Dieses Material rostet, sobald die Farbschicht beschädigt wird. Und dadurch, dass man sie rot anstreicht, wird die Fördermenge nicht erhöht.
Unter den Politikern müssten die Stimmbürger jenen vorziehen, welche die Dinge beim Namen nennen. Sogenannte Schosenheißer. Nicht ihr schüttelreimisches Gegenstück.