Die Werteskalen laizistischer (politischer, wirtschaftlicher) und weltanschaulicher (religiöser und anderer) Gemeinschaften

Enrico Bergmann

Unterschiedliche Kulturen haben unterschiedliche Werteskalen.

Einstellung zum Freitod

Wer in der westlichen Kultur einen Akt als »selbstmörderisch« bezeichnet, meint damit »unwahrscheinlich«, weil mit dem Leben zu bezahlen. Genau diese Fehlinterpretation wurde den USA am Sonntag, den 7. Dezember 1941 zum Verhängnis, als die Japaner den hawaiianischen Kriegshafen Pearl Harbor angriffen und einen Teil der amerikanischen Kriegsflotte zerstörten. Sie scheuten den Selbstmord nicht.

Bis zu diesem Zeitpunkt hatten sich die Vereinigten Staaten offiziell noch »neutral« verhalten. Der Präsident (Roosevelt) hatte zwar die Kompetenz, eine militärische Auseinandersetzung zu führen. Die Befugnis eine Kriegserklärung auszusprechen lag aber beim Kongress. Nicht zuletzt in Erinnerung an den Ersten Weltkrieg fehlte bei diesem und in der Bevölkerung die Bereitschaft, den Tatsachen ins Auge zu sehen. Wie in ähnlichen Fällen üblich, neigte man dazu, von den denkbaren Szenarien jenes für möglich zu halten, welches das bequeme Alltagsleben am wenigsten infrage stellte.

Churchill erinnert sich in seinen Memoiren: »To them (the Americans) as to me, it seemed that for Japan to attack and make war upon the United States would be an act of suicide.« Übersetzung: Ihnen (den Amerikanern) wie mir schien ein Angriff und Krieg der Japaner gegen die Vereinigten Staaten ein Akt der Selbsttötung. Churchill lässt immer wieder durchblicken, dass er die japanische Kultur wertschätzt. Geradezu prophetischer klingt seine Aussage über das Los, welches den Japanern beschieden sein würde, sollten sie Amerika angreifen: »As for the Japanese, they would be ground to powder.« Was die Japaner betrifft, sie würden zu Staub zermahlen werden.

Hitler gereichte es zum Vorteil, dass seine »Achse« – über Italien verlaufend – das zum Selbstmord bereite Japan einschloss. Obwohl auch in seinem Reich der Spruch kursierte: »Du bist nichts, dein Volk ist alles!« Es scheint allerdings, dass selbst er nicht auf dem Laufenden war, dass die Japaner einen Angriff auf »Pearl Harbor« vorbereiteten.

Amerikaner und Europäer neigten immer wieder dazu, den Umstand auszublenden, dass andere Kulturen unterschiedliche Werteskalen haben. »Kamikaze« und »Harakiri« sind längst in die englische und deutsche Sprache übergegangen. Die arabischen Pendants dazu sind uns (noch?) weit weniger geläufig. (Kriegs-)Fanatismus, politische, weltanschauliche und religiöse Motive können bezüglich der Prioritäten und ihrer Beurteilung eine entscheidende Rolle spielen.

Nation oder Religion?

Auch wenn sie nicht chauvinistisch sind, setzen Westeuropäer – heute weitgehend mit laizistischer Grundeinstellung – meist voraus, bei Ausländern würde der nationale Zusammenhalt höher gewertet als die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religion. Mir persönlich haben selbst sogenannte gemäßigte arabische Muslime erklärt, dass dem nicht so sei. Die Zugehörigkeit zu ihrer Glaubensgemeinschaft werten sie als weit wichtiger als jene zu einer Rasse oder Nation. Ob dies positiv zu werten ist, bleibe dahingestellt. Relativieren muss man eine solche Aussage aber dann, wenn die Konfession zur Ablehnung Andersgläubiger führt. Nach dem Motto: Und willst du nicht mein Bruder sein, so schlag ich dir den Schädel ein.

Als Bumerang erweist sich diese Einstellung, wo sie in blindwütige Intoleranz in Detailfragen ausmündet. Die Christenheit hat über Jahrhunderte hinweg interne Glaubenskriege geführt und es zeigt sich, dass diesbezüglich die Muslime nicht verschont bleiben und immer noch bleiben.

Wenn es aber so ist, dass Religion vor Nation kommt, führt das in der Wahlheimat und im Gastgeberland muslimischer Migranten immer dann zu erheblichen Konflikten, wo sie der Ethik, den Gesetzen und den einheimischen Auffassungen widersprechen. Auch wenn sie sich scheinbar zurücknehmen, in der Hoffnung die Autochthonen eines Tages auf ihre Seite zu ziehen.

Historische Frustrationen als Motivation zu erneuter Machtergreifung

Unbewältigte Frustrationen können sowohl beim Einzelwesen als bei Menschengruppen zu Rachegefühlen oder zumindest zum Wunsch nach »ausgleichender Gerechtigkeit« führen.

In chronologischer Reihenfolge könnte man zu den folgenden Gebietsbildungen und Ereignissen mit finalem Schrumpfungsprozess zählen: das Osmanische Reich / Türkei (bis 1683), das napoleonische Frankreich (bis 1812), Donaumonarchie (bis 1918), Deutsches Reich (bis 1945), Sowjetunion (bis 1991), Arabischer Frühling (kann bis heute nicht als abgeschlossen gelten). Selbst zeitlich weiter zurückliegende Eroberungskriege und Staatsgründungen können möglicherweise und eventuell unterbewusst zu bestimmten Verhaltensweisen führen. Andernorts wurde schon die Frage gestellt, ob die EU unter Führung von Deutschland und Frankreich nicht als Versuch betrachtet werden könnte, die im Alleingang nicht gelungene Hegemonie über den alten Kontinent mit neuem Label und diesmal »friedlich« zu bewerkstelligen. Wie friedlich kann man sich allerdings fragen, wenn Wirtschaftsboykott als Fortführung der Diplomatie mit anderen Mitteln angewandt wird.

Parallelen zur Vergangenheit

Die allerjüngsten Vorkommnisse aber sind jene, welche Iran, Irak, Syrien die Türkei und nordafrikanische Staaten betreffen. Hier kommt die – im Moment von berufener Seite weder bestätigte noch widersprochene – Aussage ins Spiel, wonach beim Islam Religion vor Nation komme.

Da wäre also eine auf Randzonen dreier Kontinente verteilte Glaubensgemeinschaft (mit internen Richtungskämpfen), deren Denk- und Verhaltensweise, bis hin zu Fragen, die über Leben und Tod entscheiden, eine völlig andere ist.

Die Werteskala des weitgehend laizistischen Europas gibt bezüglich ihrer wichtigsten Punkte einen kleinsten gemeinsamen Nenner her. Einer, auf dem sich ein Europa der Vaterländer durchaus aufbauen ließe, würden die Brüsseler Starrköpfe nicht an ihrem Kurs festhalten. Waren, Dienstleistungen, Kapital und – in einem zu kontingentierenden – Rahmen auch Personen könnten da relativ frei zirkulieren.

Wohin sich die EU »unter deutscher Führung« manövriert hat

Von allen Ländern, die am Zweiten Weltkrieg beteiligt waren, ist vermutlich kaum eines heftiger als Deutschland durchgeschüttelt worden. Bei Kriegsende war die Bevölkerung bezüglich ihrer Herkunft aus den verschiedenen Bundesländern und angestammten Gegenden stärker durchmischt als in den Nachbarländern, hauptsächlich in den Städten. Es scheint, dass damit auch eine größere Aufnahmebereitschaft für »Fremde« einherging. Allerdings zeigte es sich nach dem Mauerfall, dass weniger als ein halbes Jahrhundert genügt hatte, um zwischen Menschen ursprünglich gleicher Nation und Sprache, nach vorübergehender Trennung (in Ossis und Wessis), Animositäten entstehen zu lassen. Schon in solchen Fällen kann die »Werteskala«, welche die Grundeinstellung und das menschliche Verhalten bestimmt, sich spalten; ihre wichtigsten Teile können auseinander driften.

Ein ähnliches, noch viel stärkeres Phänomen, scheint zwischen den jetzigen drei Millionen Menschen mit türkischen Wurzeln und der angestammten deutschen Bevölkerung zu bestehen, wobei es sich hier nicht um ein Auseinanderdriften handelt, sondern um eine von Anfang an bestehende starke Unterschiedlichkeit. Wie extrem diese sein kann, ist bei der Pro-Erdogan-Demo vom 31.07.16 in Köln – vermutlich zum Schrecken vieler Deutscher – zutage getreten. Zuvor hatte es sich schon Ende letzten Jahres gezeigt. »Bei der Neuwahl zum türkischen Parlament im November 2015 stimmten knapp 60 Prozent der in Deutschland lebenden Türken für seine (Erdogans) Partei, die islamisch-konservative ... AKP. Damit schnitt Erdogans Partei in Deutschland besser ab als in der Türkei.« (Die Welt, 18.07.16, »Wie stehen die Türken in Deutschland zu Erdogan?«)

Wie auch immer, nun hat der Mann am Bosporus die Hand am Hebel des Ventils, das im Moment noch den Migrantenstrom Richtung Europa steuert. Die EU wird damit erpressbar (Visa-Frage), weil eine Schengen-Raum-Außengrenze, die diesen Namen verdient, praktisch nicht existiert.

Ebenfalls unter Führung Deutschlands (und mit Einbezug der NATO) wurden Länder im Vorgarten der Russen ermuntert, die Aufnahme in die EU zu beantragen. Das Verhältnis zu Putin und offenbar zu einer Mehrheit des russischen Volkes wurde getrübt, Wirtschaftssanktionen eingeführt, die sich weitgehend als Bumerang erwiesen.

Übrigens, Erdogan scheint einen neuen Verbündeten zu haben: Putin.

Wir haben zu akzeptieren, dass unterschiedliche Menschengruppen andere Werteskalen anwenden, aber wir müssen sie nicht zwingend zu unserer eigenen machen.

Wie wir gesehen haben, tickt Asien unterschiedlich zur westlichen Kultur, diese wiederum anders als die islamische. Das so entstandene Sprengpotenzial, in diesem Fall durch das Gemisch von Nation und Religion, wird offensichtlich unterschätzt. Es ist ja in der Geschichte mehr als einmal vorgekommen, dass Religionskriege zur Gründung eigener Staaten geführt haben. Interessant ist auch ein Blick auf die Liste der gegenwärtig auf der Welt laufenden bewaffneten Konflikte in Bezug auf die Beteiligten und deren Religionszugehörigkeit.

https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_andauernden_Kriege_und_Konflikte

Nicht nur, dass Volksgruppen sehr unterschiedlicher Konfessionen sich gegenseitig bekriegen, an vielen Orten sind es solche, die wir für gewöhnlich unter einem gleichen Oberbegriff zusammenfassen (Christen, Muslime usw.), die sich aber ob irgendwelchen Detailfragen in unterschiedliche Glaubensrichtungen, Sekten usw. aufspalten und bekämpfen. Wenn sie dann aus ihren Kriegsgebieten als Flüchtlinge zu uns kommen, führen sie ihre Auseinandersetzungen in unseren europäischen Ländern fort. Als ob wir nicht genug eigene Sträuße auszufechten hätten!

Die Schweiz verlangte früher von Ausländern, dass sie als ihre Gäste politisch »abstinent« zu leben hatten. Eine Ausnahme bildete die Ausübung ihres Stimm- und Wahlrechts in Gebäuden ihrer Botschaften und Konsulate. Auch da haben vermeintliche Menschenrechtsfreunde und Linke in den letzten Jahrzehnten die Vorschriften gelockert, mit dem Resultat, dass man in gewissen Städten manchmal nicht mehr durchkommt, weil irgendeine politische Ausländergruppierung eine Demo, eine andere eine Gegendemo abhält. Inländische politische Straßenmanifestationen sind hier seltener, weil direktdemokratische Institutionen sie meistens überflüssig machen. Auch zu politisch motivierten Morden unter Einwanderern eines gleichen Landes ist es schon gekommen. Was würden Sie sagen, wenn ein zerstrittenes Paar aus der Nachbarschaft einen Ehekrach – bis zu Tätlichkeiten – in Ihrer Wohnung abhielte?

Um auf die an Einfalt grenzende Arglosigkeit der europäischen Gastländer zurückzukommen, die als selbstverständlich voraussetzen, hinsichtlich hiesiger Rechte und Usanzen würden die Zugereisten die hier heimischen übernehmen: Ganz so naiv waren die Amerikaner nach »Pearl Harbor« doch nicht. Der Vorfall führte vorerst einmal zur Internierung japanischstämmiger Amerikaner. Hier handelt es sich bestimmt nicht um ein Ruhmesblatt amerikanischer Demokratie.

https://de.wikipedia.org/wiki/Internierung_japanischst%C3%A4mmiger_Amerikaner

Nun darf man diesbezüglich nicht den Fehler anwaltschaftlicher Geschichtsschreibung begehen. Auch jener des Generalverdachts ist tabu. Aber wir sprechen hier von gänzlich anderen Proportionen: um etwas über hunderttausend Menschen in den USA zu Beginn der Vierzigerjahre, von Millionen im Europa der Gegenwart.

Ich habe in der Schweiz einmal in einer Stadt gelebt, die auf dem besten Weg dazu war, das Mekka ... der Drogendealer zu werden. Der Rauschgifthandel lag da nachweislich zu über neunzig Prozent in den Händen von Schwarzafrikanern. Die Polizei kontrollierte im Rahmen von Razzien Menschenansammlungen an neuralgischen Punkten. Die Linke beklagte sich im Stadtparlament, weil dabei vornehmlich Schwarze auf ihre Identität und Hinweise auf Zugehörigkeit zum Drogenring überprüft wurden. Der Grund war nicht ein rassistischer, sondern ein mathematischer.

An Ende wird der Autochthone zum Fremden im eigenen Land. Die Empörung ist jeweils groß, wo (wirkliche) Rechtsextreme ihre angebliche Vaterlandsliebe zum Vorwand nehmen, in den Straßen herumzukrakeelen oder gar Asylantenheime anzuzünden. Aber viele dieser Vorfälle würden sich vermeiden lassen, wenn sich die traditionellen Parteien endlich ernsthaft mit den geschilderten Problemen befassen würden. Dazu würde auch gehören, jene Linken zurechtzuweisen, die mit Dialektik nach Goebbelscher Schule bemüht ist, Andersdenkende durch die gezielte Auswahl eines pervertierten Vokabulars systematisch – und unter dem Schwindeletikett der »political correctness« – zu diskreditieren.

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