ARTE
Wer die Ausstrahlung der Dokumentation Lady Liberty auf ARTE verpasst, dem entgeht wirklich etwas. Um sie zu Unterrichtszwecken zu verwenden, empfiehlt es sich, sie vorher mehrmals anzusehen. In der Tat enthält sie eine geballte Ladung an Wissen, unterhaltsam dargeboten. (Die vorliegende einleitende kurze Rezension erfolgt aufgrund einer Erstausstrahlung der Originalversion in französischer Sprache.)
Lady Liberty und ihr Bezug zur Gegenwart
Der Bezug zur Gegenwart der Arte-Dokumentation ist insofern interessant, als die Geschichte der Freiheitsstatue mit jener der Freiheit selbst gewisse Parallelen aufweist.
Vorgeschichte
Von Napoleon dem Dritten, teilweise auf Schloss Arenenberg im Kanton Thurgau in der Schweiz aufgewachsen, heißt es, dass er perfekt Schweizerdeutsch sprach (Thurgauerdialekt: http://www.srf.ch/news/regional/ostschweiz/thurgauer-dialekt-zu-unrecht-verpoent). Wenn schon: Das Verständnis für direkte Demokratie ging bei ihm offenbar nicht mit jenem der Sprache einher. So wenig wie beim südkoreanischen Diktator Kim Jong-un, der einen Teil seiner Jugend in der Schweiz verbracht haben soll.
Laboulaye und der Bildhauer Bartholdi
Ein politischer Gegner Napoleons des Dritten, der französische Politiker Édouard René Lefebvre de Laboulaye, so erfährt man in der Dokumentation, inspirierte den jungen talentierten (und vermögenden) Bildhauer Frédéric-Auguste Bartholdi zur Schaffung der Freiheitsstatue von New York. Wie sein Name vermuten lässt, hatte er italienische Wurzeln. Auch bei ihm gibt es eine Beziehung zum Thurgau. Seine Familie soll, von diesem Kanton kommend, über Süddeutschland ins Elsass eingewandert sein.
Die Freiheit, die Welt erhellend
Die Geschichte der Freiheitsstatue »La Liberté éclairant le monde«, so der vollständige Name der Skulptur (die Freiheit, die Welt erhellend) ist typisch für die Freiheit selbst. Wohl haben Vermögende und Leute aus der Oberschicht die Idee dazu gehabt und erstes Kapital zur Verfügung gestellt. Die ideelle und finanzielle Verwirklichung und Umsetzung war aber letztendlich das Werk der Menschen aus der Mittel- und Arbeiterschicht.
Mit einem subjektiven Freiheitsgedanken hausieren gehen?
Bezüglich Aufklärung und Freiheitskampf drängt sich allerdings eine Frage auf: Ging und geht nicht zu viel Energie verloren, wenn Völker, die sich eines als solches empfundenen Jochs befreien, mit ihrer Idee hausieren gehen? Da die Werteskala von Volk zu Volk sehr unterschiedlich sein kann, ist es doch denkbar, dass das Bedürfnis nach (persönlicher) Freiheit nicht überall das gleiche ist. Auf dem Substrat unterschiedlicher Religionen, Weltanschauungen oder politischer Fanatismen können die abstrusesten Moralvorstellungen entstehen. Der Attentäter von Nizza lieferte gerade eben wieder ein Beispiel dafür.
Ein vereintes Europa unter deutscher Führung?
In Theorie und Praxis befassen sich Politologen und Wirtschaftsfachleute mit dem Gedanken des vereinten Europas. Dies führt manchmal zu einem sprachlichen Eiertanz. In der Theorie ist dann von Deutschland als »Macht in der Mitte« die Rede. Das Wort »Führer« vermeiden sie verständlicherweise wie der Teufel das Weihwasser. In der Praxis muss man wohl zugeben, dass die Tüchtigkeit des deutschen Volks von der totalen Niederlage über den Marshallplan und das Wirtschaftswunder beachtliches zustande gebracht hat. Aber wenn man nun bereits wieder davon spricht, die Bundeswehr über die Befähigung der Verteidigung des eigenen Landes hinaus aufzurüsten, dürfte es einigen Europäern schon ein bisschen bang werden. Jenen, welche seit ihrer Kindheit das bei drohenden Fliegerangriffen gehörte Sirenengeheul bis zum heutigen Tag nicht vergessen haben (Engländer, Kontinentaleuropäer einschließlich der Schweizer). Die andern können mal https://www.youtube.com/watch?v=X52bsi3dCqQ aufrufen. So wie Napoleon an einen geeinten Kontinent unter französischer Führung dachte, hatte Hitler von einem vereinten Europa (natürlich unter deutscher Führung) geträumt und sich hierzu »eine neue Ordnung ethnografischer Verhältnisse« ausgemalt. Die Folgen sind bekannt. Die Untaten der Nazis dürften den nachfolgenden deutschen Generationen trotz der »Gnade der späten Geburt« noch lange mit dem Unterton einer Strafpredigt vorgeführt werden. Ungerechterweise und möglicherweise mit der gegenteiligen als der erhofften Wirkung. Besonders wenn ein Teil ihrer heutigen Politiker bereits erneut mit einer gewissen Arroganz auftreten. Man komme uns nicht mit »Aber das ist doch 70 Jahre her!«, denn genau so lang hat es die Sowjetunion gegeben. Und es sind nicht zuletzt die gleichen Wichtigtuer und Putin-Gegner, die dem Präsidenten der Russischen Föderation vorwerfen, er wolle die Methoden und Ansprüche der UdSSR wieder einführen, deren Implosion allerdings erst 25 Jahre zurückliegt. Aber es genügt, den »Archipel Gulag« von Solschenizyn zu lesen, um zu verstehen, dass Russland praktisch niemals traditionelle demokratische Strukturen hatte, autokratische hingegen schon.
Das Problem aufgeklärter Westeuropäer
Wir mögen es unerträglich finden, wenn wir das, was wir die (ohnehin unterschiedlich interpretierten) Menschenrechte nennen, anderswo »mit Füßen getreten« sehen. Ob die westliche Zivilisation da gleich missionierend und gar »kolonisierend« eingreifen soll, darüber lässt sich allerdings streiten. Innerlich empörend ist es wohl, zusehen zu müssen, dass in anderen Gebieten der Welt noch finsteres Mittelalter herrscht. Aber ist es nicht vielleicht so, dass die dortigen Menschen mit ihrem Schicksal zufrieden sind und es gar als gottgegeben so hinzunehmen bereit sind? Mag es auch ein angeborener Wunsch sein, seine Werte von weiteren Menschen geteilt zu sehen: Gibt uns dies ein Recht, hinzugehen und sie ihnen anzuempfehlen, aufzudrängen, aufzuzwingen? Wenn wir die Frage verneinen, müssen wir uns umgekehrt das Recht herausnehmen, Zugewanderten zu verbieten, eben dies zu tun.
Wollen hingegen die Völker der erwähnten rückständigen oder totalitär geführten Länder aufschließen, gibt es nur einen akzeptablen Weg. Sie müssen – wie die Europäer es getan haben – ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen. Insbesondere die wehrfähigen jungen Männer, die bei den gegenwärtigen Migrantenströmen die Mehrheit ausmachen. Natürlich ist es allemal bequemer, es sich als »Flüchtlinge« im intakten Europa wohlergehen zu lassen und darauf zu warten, dass die Angehörigen einer Befreiungsarmee für sie den Dreckjob machen und ihr Leben riskieren. An Beispielen aus jüngster Zeit fehlt es nicht.
Sollen wir uns von Zugereisten dreinreden lassen?
Die Antwort ist nein, und zwar gerade dann, wenn sie zu Hunderttausenden bei uns eindringen und ihre – nach unserem Empfinden mittelalterlichen – Bräuche mitbringen. Wenn sie die laizistischen Gesetze des Aufnahmelandes nicht verletzen – mag man sie tolerieren, aber wenn sie der angestammten Bevölkerung des Aufnahmelandes übergestülpt werden sollen, hört der Spaß auf. Sind wir wirklich bereit, das Rad der Zeit um 600 Jahre zurückzudrehen?
Fünfte Kolonne oder Fortschrittsgläubigkeit urbanisierter Landeier?
Den Eindringlingen gelingt dies dort umso leichter, wo es Einheimische gibt, die ein solches Bestreben aus politischen Gründen oder aus einer Exotenmacke heraus willkommen heißen. Mit Toleranz und Respekt vor fremden Kulturen hat dies nichts mehr zu tun. Mit blinder Fortschrittsgläubigkeit urbanisierter Landeier schon eher.
Irgendwie erinnert dieses Verhalten nämlich an jenen Teil der Feministinnen der frühen Siebzigerjahre, die in ihrer Heimat nicht genug nach Freiheit und Gleichberechtigung schreien konnten ... und einige Jahre später »aus Liebe« einem Macho in dessen fernes Heimatland folgten. Dort lebten sie dann unter Verhältnissen, gegenüber denen die Sklavenhaltung eines amerikanischen Präsidenten vor dem Sezessionskrieg ein Schlaraffenland war.
Wer mit dem Zeigefinger auf andere deutet
Wer mit dem Zeigefinger auf andere deutet, übersieht dabei oft, dass der Daumen in eine andere Richtung und die verbleibenden drei Finger meist auf ihn selbst zurückweisen. Also genau hinschauen, wer sein Gegenüber der Fremdenfeindlichkeit bezichtigt. Das Auslebenwollen seines Sozialhelfersyndroms auf Kosten anderer ist hierzulande ein verbreitetes Phänomen. Die Festangestellten der Sozialindustrie haben schon gar kein Interesse daran, zuzugeben, dass sie oft höchst ineffizient arbeiten und sie ihre (durch Steuergelder, Spenden und Freiwilligenarbeit ermöglichten) Jobs nicht verlieren möchten. Und dies wäre natürlich der Fall, wenn die Migrantenströme versiegen würden.
Goethe und »Bei uns drüben ...«
Die Tendenz, andern anzuempfehlen, aufzudrängen, aufzuzwingen, was man von zu Hause her gewohnt ist, entdeckte einst kein Geringerer als Goethe an sich selbst. (Er stellte Überlegungen an, wie die Müllentsorgung in Venedig zu reorganisieren sei, ging dann aber auch selbstkritisch mit sich ins Gericht.)
Den Deutschen – und sie sind bei Weitem nicht die Einzigen – scheint so etwas ein Stück weit in den Genen zu liegen. Ein in der Schweiz oft gehörter Satzanfang ist hier geradezu zum geflügelten Wort geworden: »Bei uns drüben ...!«
Neue Jungfräulichkeit dank europäischem Pass?
Selbst die Schweizer, von denen nach letzten Umfragen nur 16 Prozent bei der EU mitmachen möchten, sähen manchmal einen Vorteil darin, sich an Flughäfen bei der Warteschlange der EU-Bürger anstellen zu können. Mit dem Schweizerpass sind seit dem Swissair-Grounding und den Bankenskandalen im Ausland kaum mehr Sympathien zu holen. Genau so wenig mit Fahrzeugschildern, welche die Herkunft bis hin zum Kanton auf große Distanz erkennen lassen, wogegen sich bei der EU-Beschilderung das Land bald nur noch mit einer Lupe feststellen lässt. Entsprechend geraten die CH-markierten Fahrzeuge im Ausland dann leichter ins Visier bußenkassierender Polizisten, Autodiebe, Einbrecher oder Ausbremsern. Analog zu dem, was bei der Preisgestaltung international tätiger Marken geschieht: Das Klischee, wonach die Schweizer ja genug Geld haben, ist ja weit verbreitet. Die darf man ruhig »ausnehmen«. Kein Wunder, dass viele ihr Auto daheim lassen und im Zielland ein Fahrzeug mieten.
Schweizer Firmen produzierten einst Waren und Dienstleistungen mit einheimischen Arbeitskräften nach dem Motto: klein aber fein (klein bezüglich der Seriengröße). Heute wollen sie aus Geldgeilheit gute Qualität in Massenfabrikation und mit gezinktem Swiss-Made-Label (Swissness-Anteil) durch den Import Minderqualifizierter bewerkstelligen, was oftmals in die Hosen geht. Damit soll nicht gesagt werden, dass Ausländer per se schlechter arbeiten (günstiger schon eher, besonders bei Pendlern); oft ist das Gegenteil der Fall, und zwar sowohl bei intellektuellen Jobs als in schweißtreibenden Tätigkeiten auf Baustellen, auf dem Bauernhof oder in der Hotellerie. An hoch qualifizierten und im Ausland ausgebildeten Fachkräften mangelt es zum Glück ebenfalls nicht. Namentlich in Gesundheits- und Pflegeberufen. Übrigens schwingen auch hier die Deutschen in Sachen Tüchtigkeit oft obenaus. Dass neulich das »Made in Germany« das »Made in Switzerland« überholt hat, ist vermutlich nicht unverdient. Das Argument für einen noch größeren Zustrom an ausländischen Arbeitskräften lautet: Viele würden Tätigkeiten verrichten, für welche keine Schweizer zu finden seien. Das ist leider richtig. Ein Teil dieser Situation rührt jedoch auch daher, dass wir uns in der Schweiz bei Arbeitslosigkeit immer noch eine Zumutbarkeitsklausel leisten, welche den finanziellen Verhältnissen der Arbeitslosenkassen nicht mehr angemessen ist.
»Trial and Error« ist schon bei physischen Krankheiten ein oft angewendetes Verfahren. Bei psychischen Problemen bleibt oft keine andere Möglichkeit, als den Psychiatern zu glauben. Gutachterkriege und Fehlbeurteilungen Straffälliger liefern beredte Beispiele dafür, wie groß die Dunkelziffer sein dürfte, wenn es um die Beanspruchung von Sozialleistungen mit dubioser Begründung geht.
Was Deutschlands EU-Partner nicht so offen aussprechen
Ausgerechnet die Nation, die vor 70 Jahren unter einem Diktator Europa seine »Neue Ordnung« mit Waffengewalt andern aufzwingen wollte, führt jetzt wieder die EU an und spielt mit dem Gedanken, ihre Bundeswehr zu befähigen, mehr zu leisten als die Verteidigung des eigenen Landes. Die neue, »europäische« Nationalität kommt gewissen Deutschen sehr gelegen. Besonders jenen, welche andere Staaten Mores lehren wollen. Namentlich anderen Staaten, welche die persönliche und eigene Freiheit für wichtig genug halten, die EU wieder zu verlassen oder ihr gar nicht erst beizutreten. Die deutsche Presse hat in den letzten Tagen aus allen Rohren (mit Druckfarbe) auf die Briten geschossen. Die Schweizer sind solches gewohnt. Nach der Annahme der Masseneinwanderungsinitiative durch das Schweizer Stimmvolk (praktisch ein Jahr vor dem großen Migrationsschub von 2015) konnte man in der Gratiszeitung »20 Minuten« lesen: »Die spinnen, die Schweizer – SPD-Vize Ralf Stegner stellt das Schweizer Volk als verrückt hin, der deutsche Finanzminister Schäuble prophezeit Bern große Schwierigkeiten.« Gauck schnödete: »Die direkte Demokratie kann Gefahren bergen, wenn die Bürger über hochkomplexe Themen abstimmen.« – Elitedenken in Reinkultur.
Volkverachtendes arrogantes Elitedenken
Das arrogante Elitedenken hat auch in der Schweiz seine Anhänger und Etikettenkleber. In Mode ist zurzeit »Populismus« und »populistisch«. Damit ist in 99% der Fälle die Popularität der politischen Gegner gemeint. In Ländern, wo die parlamentarische Demokratie das Höchstmaß an Volksmitsprache bedeutet, kann auf wenig Verständnis hoffen, wer durch direkte Demokratie den sogenannten und/oder selbsternannten Experten an den Karren fährt.
Die entscheidende Frage
Die entscheidende Frage ist: Wem ist die Freiheit wie viel wert? Daran werden sich die Briten und die Schweizer demnächst messen lassen müssen. Es ist wahrscheinlich, dass ihnen die EU aus überempfindlichem Unmut Steine in den Weg legen wird. Ganz andere Proportionen dürfte aber der Eisberg an eigenen Problemen haben, auf welche die »TEUTANIC« mit unverminderter Geschwindigkeit zusteuert, wenn ihre Führer weiterhin den falschen Kurs fahren. Auf de Gaulle wollte ja niemand hören, als er das vereinigte Europa als »Europe des Patries« (Europa der Vaterländer) zu formieren empfahl.
Wem verdankt ein Land sein wirtschaftlich gutes Ansehen?
Im Falle der Schweiz einem von unten nach oben strukturierten stabilen politischen System und einer ebensolchen Wirtschaft. Mit einer historisch gewachsenen direkten Demokratie und mit einer anfänglich (ab 1515) freiwilligen und später von den Signatarstaaten des Wiener Kongresses und des Zweiten Pariser Friedens (1814/1815) dem Land auferlegten/akzeptierten bewaffneten Neutralität war der politische Rahmen vorgegeben.
Einer ursprünglich positiv konnotierten patriarchalischen Arbeitgeberschaft und einer Arbeitnehmerschaft, die sich nicht nur bezüglich ihrer Präzisionsarbeit, sondern auch hinsichtlich ihrer vernünftigen Forderungen auszeichnete (Arbeitsfriede), war das günstige wirtschaftliche Umfeld zu verdanken.
Klein- und Mittelbetriebe garantierten technologischen Fortschritt, weil Innovationswille und -fähigkeiten nicht intellektuell verordnet, sondern, dank dem Berufsbildungssystem, aus der Praxis gewachsen waren. Die Anzahl aus der Schweiz stammenden Erfindungen legt davon beredtes Zeugnis ab. Voraussetzung war aber stets, dass billige unqualifizierte Arbeitskräfte nicht zu wohlfeil waren.
Auch als aus diesen Firmen Großunternehmen entstanden, sah man ihre Patrons am Montagmorgen noch mit ihrer Arbeitsschürze unterm Arm in ihren Betrieb kommen.
Ende der Sechziger-, Anfang der Siebzigerjahre gab es im Berner Jura eine Gemeinde, wo Drehautomaten hergestellt wurden. Das sind Maschinen, bei denen ca. 3 m lange Metallstangen eingeführt werden. Daraus entstehen durch Zerspanen vollautomatisch kleinste Teile mit Gewinden oder anderen komplizierten Formen. Dabei erreichen diese einen Genauigkeitsgrad bis zu drei tausendstel Millimeter, in unglaublicher Stückzahl pro Minute hergestellt.
Die tonnenschweren Automaten wurden per Luftfracht nach Übersee exportiert! Da sie den Bestellfirmen viel früher zur Verfügung standen, als wenn sie die Reise mit dem Schiff angetreten hätten, lohnten sich die größeren Versandspesen. Der teure Schweizerfranken war kaum ein Thema. Wer am Sonntagabend durch die Gassen der Gemeinde ging, wunderte sich über die Tatsache, dass sie wie ausgestorben waren und die meisten Lokale schon geschlossen hatten. Die Erklärung? Die Arbeiterschaft, die am Montagmorgen um sieben Uhr wieder an ihren Werkbänken stehen musste, war sich der Tatsache bewusst, dass sie ausgeruht zu erscheinen hatte. In einem anderen Zustand wäre ihre Präzisionsarbeit auch gar nicht zu bewältigen gewesen. Die Löhne sahen übrigens eine Gewinnbeteiligung vor.
Schlussendlich verdankte die Schweiz einem Mix an Voraussetzungen, aber auch einem gnädigen Schicksal (von zwei Weltkriegen verschont) ein beachtliches Wohlergehen. Von diesem profitierten lange Zeit die Mehrzahl seiner Bürger. Leider hat sich vieles geändert. Nicht immer zum Guten.
Geldgeile, rufschädigende Abzocker
Es gibt zum Glück immer noch Schweizer Firmen mit Weltruf und einem Management, welche die alten Erfolgsrezepte nicht entsorgt haben.
In den letzten Jahrzehnten hat aber eine zunehmende Zahl an Produktions- und namentlich Dienstleistungsbetrieben jeden Sinn für Proportionen verloren. Mit der Drohung, ins Ausland abzuwandern und Leute zu entlassen, möchten sie Parlamentarier und Stimmvolk dazu bringen, ihnen ein maßgeschneidertes Land zu zimmern, das es ihnen erlaubt, noch schamloser aufzutreten. Durch den Aufkauf von Papiertigerwährungen soll die Nationalbank die Exporttätigkeit von Branchen stützen, die bereits jetzt nur dank der Masseneinwanderung ausländischer Arbeitskräfte ihren »Ausstoß« zu sichern vermögen. Die Baubranche, die von der landwirtschaftlichen Anbauschlacht im letzten Weltkrieg offenbar noch nie etwas gehört hat, ist bereits daran Wohnungen für immigrierende Arbeiter zu bauen, die Wohnungen für immigrierte Arbeiter bereitstellen soll. Baulandspekulanten finden immer wieder willfährige Politiker und Stimmbürger, welche die erforderlichen Umzonungen durchwinken.
Neuerdings wird der Untergang der Schweiz prophezeit, für den Fall, dass die bilateralen Verträge mit der EU nicht um jeden Preis »gerettet« werden können! Viele der ehemals ausschließlich monarchistisch, wenn nicht diktatorisch regierten Mitglieder der EU werfen der Schweiz »Rosinenpickerei« vor. Ist es nicht vielmehr so, dass sie in ihrem Einheitsbrei noch ein paar Rosinen (Nettozahler) gut gebrauchen könnten?
Mit anderen Worten, die Schweizer sollen ihre Seele verkaufen und als Gratisbeigabe die Großmutter noch dazu, damit der wirtschaftliche Wahnsinn hochschulgeschädigter Klugschreiber fortgeführt werden kann.
Wem hat die Schweiz die größten Reputationsschäden zuzuschreiben?
Eben jenen Firmen, deren Geschäftsmodell darin besteht, mit den Vorteilen schweizerischer Eigenart hausieren zu gehen – an deren Existenz heutige Manager und Geldgeber keinen Anteil mehr haben. Auf kurzfristigen Gewinn ausgerichtet, lassen sich ihre Aktionäre und Führungsgremien auf gefährliche Spielchen ein. Nachdem sie jahrzehntelang die größten Gewinnanteile in den eigenen Sack gesteckt haben verlangen sie im Notfall (»too big to fail«) Hilfe von der Allgemeinheit: Überbrückungskredite, Steuerentlastungen, Interventionen der Nationalbank auf dem Devisenmarkt um den teuren Franken zu bekämpfen, Inkaufnahme von Negativzinsen auf Geldanlagen (auch der Pensionskassen). Und zu guter letzt jetzt noch die »Rettung der Bilateralen um jeden Preis«. Wozu man 725 Jahre gebraucht hat, um es aufzubauen, soll jetzt mit einem Federstrich aufgegeben werden!
Populismus oder Popularität
Es wäre ein Leichtes, auch die obigen Aussagen als populistisch abzutun.
Eigentlich wäre die Definition des Populismus: Die Darstellung des Volkes als arbeitsam und aufrichtig einer korrumpierten und arbeitsscheuen Elite gegenüberstellen. Wie nennt man es aber, wenn die obgenannte Beschreibung der Wirklichkeit entspricht?
In Tat und Wahrheit wird heute je länger je mehr mit »Populismus« die Popularität der politischen Gegner bezeichnet.
Wem die Freiheit etwas bedeutet, ist auch bereit, den Preis dafür zu bezahlen
Mit dieser Möglichkeit rechnen heutige Politiker gar nicht mehr. Um an den Anfang unserer Geschichte zurückzukehren: Im gleichen Maß wie die Freiheitsstatue in New York am Ende das Werk Tausender und Abertausender Menschen aus der Mittel- und Arbeiterschicht zu verdanken war, ist der Erhalt der persönlichen Freiheit und jener eines Volkes nicht das Verdienst einer Elite. Die Freiheit muss täglich neu erstritten werden. Notfalls auch dadurch, dass man sich selbst Einschränkungen auferlegt. Neulich lautete ein Kommentar zu einem ähnlichen Artikel (in etwas vorwurfsvollem Ton): »Ja, aber die Norweger und die Schweizer lassen sich die Freiheit etwas kosten.« Neuerdings wären ihnen jetzt noch die Briten beizufügen. Doch was soll man dazu sagen? Ausser: Allerdings!