August Lindenbaum schritt bedächtig den Hang hinauf. In seinem Alter, er war 84, musste man es beim Wandern langsam angehen. Wie oft er hier wohl gegangen war? Hunderte Male wahrscheinlich. Damals vor über sechzig Jahren war er aus der weit entfernten Stadt hier in die Abgeschiedenheit der Berge gezogen. Er hatte es niemals bereut. Der Jubel und Trubel eines urbanen Umfelds vermochten ihn nie wirklich an sich zu binden. Wie gut doch alles hier roch. Es war gerade Anfang Mai und die Wiesen und Bäume sprossen empor in einem unvergleichlichen Grün. Die erwachende Natur bot sich ihm in ihrer Unmittelbarkeit derart einzigartig dar, dass es fast schon schmerzte. Es war dieses Wunder des natürlichen Kreislaufs, von Tod und Wiedergeburt von Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Jedes Jahr traf ihn diese Erkenntnis mit berauschender Kraft aufs Neue. Am meisten aber immer zum Beginn des Frühjahrs.
Niemals konnte es selbstverständlich oder alltäglich werden, wenn eben noch der Winter das Land in seinem eisigen Griff hatte, um kurze Zeit später von der Sonne mit neuem Leben durchflutet zu werden. So wie er zuvor den Herbst mit seiner kalten Umarmung erlöschen hatte lassen, so berührten ihn nun, dem ewigen Wandel der Zeiten unterworfen, die Finger der warmen Frühlingsstrahlen. Sie warfen seine gefrorenen Wasser in den aufgetauten Boden, um damit die fruchtbare Erde mit neuem Leben zu erfüllen. War es nicht seltsam, dass gerade dieses unbeugsame Eis sich verflüssigte, um Neues zu erschaffen und später dieses wieder erstarren ließ?
Ein junges Paar kam dem alten Mann entgegen, grüßte freundlich und riss ihn für Momente aus seinen Gedanken. Eng aneinander geschmiegt lachten ihn die Beiden an. Sie waren verliebt und unbekümmert. So unbekümmert wie man eben ist, wenn man sein ganzes Leben noch vor sich hat und an seine Träume und Ideale glaubt. Manche würden sich erfüllen, dachte er, andere nicht. Doch vielleicht war das auch gut so, dass sich nicht alle Träume erfüllten. Er, August Lindenbaum, hatte auch noch welche. Besser gesagt, er hatte einen Traum. Mithilfe eines Wanderstabes erreichte er eine alte Holzbank, die von Wind und Wetter gezeichnet war. Endlich! Seine Bank. Während er sich daraufsetzte fiel ihm ein, wie man sie damals vor über einem halben Jahrhundert aufgestellt hatte. Sie war so frisch und stark gewesen. Nun sah sie so verwittert aus, wie sein Gesicht. Er suchte und fand eine Einkerbung von Initialien.
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Es waren die von seiner Frau und ihm. Wie viele Jahreszeiten wohl seither ins Land gezogen waren? Das alte Taschenmesser, welches seinem Vater gehört hatte, besaß er immer noch. Die Erinnerungen an längst Vergangenes hallten in ihm wider. Zu seiner Rechten sah er das junge Paar am Weg in den Wald verschwinden. Es kam ihm wie gestern vor, als er selbst noch so jung war. In seinen Gedanken sah er sich jung und kraftstrotzend mit seiner damaligen Freundin und wie sie sich das erste Mal geküsst hatten. Dann, viel später, hatten sie sich geliebt. Wie wunderbar sich ihre jungen Körper doch anfühlten. Es gab soviel zu entdecken, so viel zu erfahren. Ja! Da war es wieder, das Gefühl. Alles ist so voll Zuversicht und Idee durchdrungen. Uns gehört das Heute und das Morgen! Uns gehört die Welt! Wir sind unbesiegbar. Dann reiste er weiter zurück, in seine Kindheit. Da waren seine Großeltern. Ob sie sich wohl dereinst ähnliche Gedanken gemacht hatten wie er an diesem Frühlingstag? Vor seinem geistigen Auge schaute er sie so klar und deutlich.
Die schwielige Hand seiner Großmutter strich ihm über den Kopf und ihr Gesicht lächelte ihn an. Er war jetzt wieder jener kleine Bub von damals. Und da war seine junge hübsche Mutter. Sie hatte ihn oft gescholten, wenn er wieder einmal etwas besonders Törichtes getan hatte. Eigentlich hatte man ihn überhaupt als ein schwieriges Kind bezeichnet, weil er alles wissen wollte und tausend Fragen stellte. Sein Vater war aus dem Krieg nicht heimgekehrt und so musste Mutter ihn und seine Schwester alleine großziehen. Nie hatte sie sich darüber beklagt und immer für ihre Kinder gesorgt. Ach ja und seine Schwester. Wie oft hatte er sie geärgert? Sie, die um zwei Jahre älter und immer besonnener als er war. Erst später hatte er begriffen, was für ein außergewöhnlicher Mensch sie war. Dem Schicksal sei Dank, dass es ihm eine derartig wunderbare Schwester bescherte. Nachdem er dem Knabenalter entwachsen war und endlich begonnen hatte erwachsen zu werden baute sich schließlich auch eine ordentliche geschwisterliche Liebe in gegenseitigem Respekt auf, die sich Zeit ihres Lebens fortsetzte.
August Lindenbaum sah in die Ferne. Diese herrlichen Berge mit ihren vom Schnee überzogenen Gipfeln. Jene monumentalen Giganten waren stumme Zeugen der Ewigkeit. Ewigkeit? Was bedeutete dieses Wort? Im Vergleich zu einem Menschenleben währte fast alles ewig. Wie oft hatte er versucht die Ewigkeit zu erdenken. Und auch die Frage nach dem Sinn unseres Lebens oder Gott. Nicht einfach nur überlegen. Nein! Denken mit dem Herzen und dem Verstand. Die Größe der Schöpfung oder des „Gesamten Ganzen“ konnte man allein rational nicht begreifen. Das hatte er schon in jungen Jahren erkannt. Immer schon faszinierten ihn esoterische Wissenschaften und er hatte in manchen davon einen Sinn erkannt. Da war zum Beispiel die Handlesekunst. Eine Zigeunerin hatte ihm, vor vielen Jahren, aus den seinen gelesen und so sein Interesse an dieser traditionsreichen Lehre geweckt. Seltsam eigentlich, dass die Linien schon in den Händen von Neugeborenen komplett ausgeprägt sind. Im Laufe der Zeit hatte er gesehen, dass sie sich verändern konnten und war so zu dem Eindruck gelangt, dass nicht alle Dinge vom Schicksal unverrückbar festgeschrieben standen. Doch es steht etwas geschrieben, schon wenn wir das Licht der Welt erblicken. Das bedeutete, dass es gewisse Möglichkeiten oder Varianten für den Verlauf unseres Erdendaseins gibt. Diese Erkenntnis stand für August Lindenbaum fest.
Einen wachen Geist brauchte es, um zu erkennen wo das Geheimnis des Lebens verborgen lag. Man musste sich selbst durchschauen und mit aller Ehrlichkeit auf den Grund eigener Wesensbeschaffenheit vordringen. Er wollte verstehen.
Heute war wirklich ein ausnehmend schöner Tag. Kein Lüftchen regte sich und der Wald schimmerte in saftigen grünen Tönen. Im Kontrast zu der Frische ruhten seine Hände auf dem verwitterten Holz der Bank. Die Spuren eines langen Erdendaseins spiegelten sich darauf wider. Die Pigmentflecken auf seiner Haut, wirkten inmitten von blutdurchströmten Adern wie Inseln, zwischen den Flüssen des Lebens. Erneut versank er in sich ......
Ob es wohl einen Gott gab? Diese Frage hatte er sich immer wieder gestellt. Wenn da ein Gott war, warum ließ er all` die schrecklichen Dinge auf Erden zu? Doch stand nicht schon in der Bibel, dass der Mensch von seinem Schöpfer den freien Willen bekommen hatte? Damit lag auch sein individuelles Dasein in seiner menschlichen Hand. Ob er, August, wohl wiedergeboren worden war? Manche Menschen behaupteten ja, dass man sich in der jeweils nächsten Inkarnation an nichts mehr erinnern kann. Oder etwa doch? Er hatte seltsame Träume in dieser Richtung gehabt. Wie oft musste ein Mensch im Falle der Reinkarnation den Kreislauf von Geburt und Tod durchlaufen? Manchmal hatte er ein wenig Angst. Nicht vor dem Tod an und für sich, nur vor dem Sterben. Dieser Übergang in wer weiß was für eine Dimension. Er wollte so gerne glauben, dass er seine geliebte Frau wiedersehen würde. Sechzig Jahre hatten sie Tisch und Bett geteilt und seit sie vor zwei Jahren gegangen war fühlte er, dass ein Teil von ihm fehlte. Er sah ihr liebes Antlitz in zeitlosem Strahlen vor sich.
Sie flüsterte in sein Ohr und nahm sein altes Gesicht in ihre Hände. Tränen rannen über seine zerklüfteten Wangen und er dachte an seinen Traum. Er wollte im Frühling sterben. Wenn sich das junge Leben regte, dann wollte er in seinem letzten Atemzug die Geburt des Neuen in sich aufnehmen und eingehen in den Kosmos der Welten, die keine Zeit kannten. Ob ihm das Schicksal oder Gott wohl diesen Wunsch gewährten? Was, wenn es ein letztes Gericht gab? War er ein guter Mensch gewesen? Nun, zumindest hatte er es immer versucht. Niemals anderen Leid zufügen oder Vorteile aus ihren Nachteilen ziehen. Er war nie über Leichen gegangen. Aber hätte er sich vielleicht mehr für arme, unterdrückte oder geschundene Menschen und Tiere engagieren sollen? Man konnte immer „mehr“ tun. Es gab wohl keine Anleitung dafür wie man am besten lebte. Über diese Betrachtungen wurde es Nachmittag. Die Farben veränderten sich langsam und die Kontraste hoben die Landschaft mit einem Male derart glasklar hervor, dass jeder Maler seine helle Freude daran gehabt hätte. Vögel flogen zwitschernd über die Bank hinweg und es schien, als erfreute sich die Natur an ihrer eigenen prallen Fülle von Reizen. Was für ein unglaublicher Tag. Wieder kamen August Lindenbaum Gedanken zum Leben und zur Welt in den Sinn.
Die Wissenschaft behauptete ja, dass es irgendwann den großen Urknall gegeben und sich daraus alles so entwickelt hätte, wie es heute sei. War es nicht vermessen, aus einem nicht näher bestimmbaren Punkt im Universum eine derartige Theorie aufzustellen? Man redete vom parallelen Raum und von möglichen anderen Universen, Raumrauschen usw. Wenn es diesen Urknall wirklich gegeben hatte, was sagte das aus? Doch höchstens, dass jede Form von Materie und Energie in irgendeiner Form schon immer vorhanden war und auch immer vorhanden sein würde. So betrachtet waren auch die Bausteine des Lebens immerwährend. Aus Leben entstand also immer wieder neues Leben. Ja, ja die Wissenschaft. Damit war er immer auf Kriegsfuß gestanden. Eigentlich sollte es ja„Fragenschaft“ heißen, denn sie schuf doch immer mehr neue Fragen als Wissen. An irgendetwas mussten sich diese Menschen scheinbar festhalten.
Der Wunsch, alles mit Struktur und Polarität zu erfüllen, war zwar verständlich, doch von Anfang an zum Scheitern erfüllt. Nur im instinktiven Vertrauen „auf“ ...... konnte man die gewünschte Sicherheit erlangen. Das bedeutete für ihn nicht, dass man geistlos durchs Leben stolperte und darauf vertraute, dass sich alles irgendwie ergeben würde. Es bedeutete viel mehr, dass man an sich arbeitete und nach Erkenntnis strebend den Punkt erreichte, an dem man schließlich erkannte, dass man nicht alles wissen konnte. Nur im Vertrauen auf etwas Größeres, das man Schicksal, Gott, das „Große Gesamte“ oder wie immer bezeichnen wollte, konnte man die Zufriedenheit des Verstandes erlangen. Nicht der Intellekt sondern das Gefühl macht den Mensch zu dem was er ist.
Der alte Mann lehnte sich zurück und streckte die Beine aus. Wie lange er wohl hier saß? Was spielte das für eine Rolle? Er trug schon seit vielen Jahrzehnten keine Uhr mehr. Die Menschen kannten die Zeit, aber kannte die Zeit auch die Menschen? Wohl kaum! Für sie waren Uhren bedeutungslos. Sie war zeitlos, die Zeit, von Anbeginn ihrer selbst. Die Schatten wurden länger und die Sonne sank langsam tiefer. Diese Stimmung in sich aufnehmen zu dürfen, war ein Geschenk. Bald würde die Abenddämmerung hereinbrechen. Der alte August versank wieder in seine Betrachtungen.
Die Welt hätte er gerne besser gemacht und manchmal hätte er sich gewünscht sich in gewissen Situationen anders verhalten zu haben. Doch das Leben war ein Wunder. Es gewährte immer Chancen und Möglichkeiten, was man in einem falsch gemacht hatte, im anderen richtig tun zu können. Es gilt wohl, dass der Weg das Ziel ist. Das hatte schon System. Er jedenfalls hatte bald erkannt, dass man vom Leben nicht immer das bekam was man wollte, doch nachträglich betrachtet immer, wessen es bedurfte. Es bot sich andauernd die Gelegenheit, eine andere Richtung einzuschlagen, ganz egal an welchem Punkt des Daseins man sich befand. Man lernte also durch das Leben und durch das seiner Mitmenschen. Die Menschheit galt es einfach nur im Zusammenhang, im „Großen Gesamten“ zu sehen, ähnlich einem riesigen Getriebe, dessen unterschiedlich große Räder alle aufeinander wirkten.
Während die Abenddämmerung hereinbrach und mit ihrem blauroten Glanz das ganze Firmament erfüllte, näherte sich eine getigerte rote Katze der Bank auf welcher der alte Mann saß. Sie hüpfte auf seinen Schoss und schmiegte sich an ihn. Im fiel ein, dass er und seine Frau auch einmal eine rote Katze, ganz ähnlich dieser hier, besessen hatten. Im Alter von 18 Jahren hatte sie dann ihre kleine Freundin verlassen und sie waren lange nicht über den Schmerz hinweggekommen. Unwillkürlich sagte er den Namen des Tieres und sein tierischer Besucher rieb sich mit lautem Schnurren den Kopf in seiner Hand. Das hatte seine Katze auch immer getan. Diese sah direkt wie ein Zwilling aus. Er fühlte sich unbeschreiblich. Vor dieser Kulisse zu sitzen und nun auch noch etwas Wärme und Nähe zu erfahren war mehr, als er sich für heute erhofft hatte. Am Himmel tauchte der Abendstern auf und kleine Lichter drangen durch die Schatten des Tales, das zu seinen Füßen lag. Er würde noch ein wenig sitzen bleiben und die beginnende Nacht genießen. Nicht einmal sein schlimmer Rücken schmerzte heute, obwohl er schon so lange hier auf dieser harten Bank saß. Während er die Katze streichelte blickte er lächelnd zu den immer zahlreicher werdenden Sternen. Er hatte das Gefühl, als könnte er den Mond und die Milchstraße berühren. Millionen und Abermillionen von Planeten und wieder das Gesicht seiner Frau, deren Hände ihn sanft berührten. Kosmischer Sternenstaub funkelte golden blinkend rings umher.
Ihm war für einen Moment lang so, und er konnte sich das Gefühl nicht erklären, als hätte er Gott gesehen. Wie hell und strahlend diese Nacht doch war. In dieser Pracht hatte er das noch nie erlebt. Kein Edelstein auf Erden konnte sich mit dieser Leuchtkraft messen. In wundersamer Weise wähnte er sich dem Weltengetümmel entrückt, fühlte sich wie ein Sternenkind. Es war wie einzugehen in die Natur des göttlichen Kosmos. Er war aufgestanden und schritt mit der Katze in der Hand weiter nach oben. Es fühlte sich an wie Schweben. Nach einigen Schritten berührte ihn abermals sanft die lichte Gestalt seiner Frau und er blieb stehen. Auch die Katze war nun von hellen Lichtstrahlen umgeben. Da wendete er sich und erblickte eine Gestalt auf der Bank, welche mit staunendem Blick und lächelndem Gesicht in den Himmel starrte. Er hatte gar nicht bemerkt, dass August Lindenbaum, welcher er fast 85 Jahre lang gewesen, gestorben war.
Auszug aus meinem 2011, beim Info-Lücke Verlag in Basel erschienenen Buch "Gottes seltsame Helden" - Märchen für Erwachsene.