Ich erlebe sehr oft den Fall, dass mich Eltern anrufen oder zu mir kommen und aufgeregt meinen: „Mit meinem Kind stimmt etwas nicht, es isst nicht normal … es hat sicher Essstörung.“ Selbstverständlich nehme ich eine solche Anfrage ernst, aber ich halte wenig davon, das Kind gleich in eine langwierige Therapie zu stecken. Kommt das betroffene Kind zu mir, erlebe ich es häufig als normalgewichtig. Ich frage es dann, ob es eine Therapie bei mir haben möchte. Dieses Einverständnis und die Freiwilligkeit, sich mit mir zu unterhalten, sind ganz wichtig. Wenn das Kind nicht möchte, können wir Therapeuten nichts tun. Bei der ersten Sitzung mit der ganzen Familie erkläre ich dem Kind, dass ich zuerst fünf Sitzungen nur mit den Eltern haben möchte. Die Reaktionen sind jedes Mal dieselben: Die Eltern spannen sich an und reagieren oft mit Unverständnis. Schließlich hat ja das Kind das Problem. Und das Kind? Das lehnt sich entspannt auf den Stuhl zurück und beginnt zu strahlen. Jedes Mal. Wenn ich dann frage, ob es mit der Vorgehensweise einverstanden ist, habe ich noch nie ein Nein gehört.
Wissen Sie, was dann passiert? In den fünf Sitzungen mit den Eltern stellt sich immer heraus, dass die beiden ein aktuelles Paarproblem haben. Das Kind erzählt mir: „Sie streiten die ganze Zeit. Es ist so anstrengend, ich muss dauernd vermitteln.“ Klar, dass das Kind von dieser Rolle als „Superkleber“ zwischen den Eltern überfordert ist. Da Kinder aber alles für Mama und Papa tun möchten, kann es sich nicht wehren, nicht nein sagen, sondern muss fast in die Essstörung gehen. Nur so kann es aufzeigen, dass das System erkrankt ist. In dem Moment, wo sich das Paarproblem der Erwachsenen löst, kann sich das Kind zurücklehnen und durchatmen. Jetzt arbeiten die Eltern!
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Essstörung ist nichts Anderes als eine Stresserkrankung, eine Störung der Stressregulierung und damit ein Zeichen unserer Gesellschaft. Wie eine Depression ist es ein Versuch, das Leben, das mir entgleitet, doch noch unter Kontrolle zu bringen. Wie? Indem ich eine Essstörung produziere oder eine lähmende Depression. Der erste Lösungansatz einer Person ist immer, eine Krankheit zu bekommen und so um Hilfe zu schreien!
Ich habe selbst drei Kinder, kenne Schulkollegen meiner Kinder und bin über das Institut „So What“ oft zur Aufklärung über Essstörung an Schulen. Privat wie beruflich merke ich, dass Jugendliche verstärkt psychische Probleme haben. Meist handelt es sich dabei um Überlastungsreaktionen. Sie reagieren auf den verstärkten Druck mit einem klassischen Burn-Out, funktionieren nicht mehr. Es geht soweit, dass sie nicht einmal mehr in die Schule gehen können.
Diese psychischen Erkrankungen und Störungen des Kindes oder Jugendlichen sind ernst nehmen. Ich glaube aber nicht, dass auf jedes Problem gleich mit einer Therapie oder gar Medikamenten reagiert werden muss. Natürlich gehört zum Beispiel eine biologische Depression behandelt, die nichtdurch ein schweres Trauma ausgelöst worden ist, sondern durch einen zu geringen Serotonin-Haushalt. Oft litten schon die Großmutter oder jemand anderer aus der Familie an einer Depression. In dem Fall hat die Krankheit eine genetische Ursache und kann behandelt werden. Nein, sie muss man sogar behandeln, denn sie wird sich in zehn Jahren nicht bessern.
Von diesen medizinisch-biologischen Störungen spreche ich nicht. Ich rede von den Problematiken, die Jugendliche durchaus ohne Therapie bewältigen können. Erst kürzlich haben Innsbrucker Forscher herausgefunden, dass bei 85 Prozent der jungen Patienten mit Persönlichkeitsstörungen die Symptome nach zehn Jahren abgeklungen sind – egal, ob behandelt oder nicht. Ich lese weniger Studien, erlebe dieses Phänomen aber tagtäglich in der Realität meiner Praxis. Mit oder ohne Therapie verändert sich etwas im Leben von Jugendlichen: Man erlebt Höhen, Tiefen, körperliche Entwicklung – all diese Schritte bewirken die Heranreifung des Menschen.
Wir gehen im Lauf unseres Lebens durch verschiedene Abschnitte. Erst wenn man in einem dieser Lebensabschnitte steckenbleibt und erkrankt, dann kann eine Therapie hilfreich sein. Sie kann eine Brücke sein, etwas leichter zu bewältigen. Hilfreich ist in jedem Fall, dass das Kind einen sicheren Ort hat, an dem es einfach sein darf. Die Jugendtherapie kann ein solcher Ort sein, muss aber nicht. Manchmal reicht ein Vertrauter oder Freund aus, mit dem man über die Probleme reden kann. Denn wenn wir eines bei Kindern und Jugendlichen nicht unterschätzen dürfen, dann ist das ihre unglaublich tolle Fähigkeit, sich anzupassen.
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