Von Wladimir Kara-Mursa.

41, ist einer der wichtigsten Oppositionellen Russlands. Er arbeitete als Berater des 2015 ermordeten Politikers Boris Nemzow und überlebte zweimal, 2015 und 2017, schwere Vergiftungen. Anfang April dieses Jahres wurde er in Moskau festgenommen. Wegen seiner politischen Äußerungen wird ihm derzeit der Prozess gemacht, es drohen ihm zehn Jahre Haft. Dieser Text ist nach einem Treffen mit Kara-Mursa kurz vor seiner Verhaftung entstanden. Über seinen Anwalt hat er ihn jetzt zur Veröffentlichung freigegeben.

"Es mag fantastisch klingen, jetzt über ein Russland nach Wladimir Putin nachzudenken. Aber tatsächlich ist genau die richtige Zeit dafür. Denn wenn wir eines über die Geschichte meines Landes wissen, dann dies: Politischer Wandel hat sich in Russland immer sehr plötzlich vollzogen – so schnell, dass er selbst für die Beteiligten überraschend kam.

Ich denke dieser Tage oft an den Russisch-Japanischen Krieg von 1904. Damals schwadronierte der Innenminister des Zaren, Wjatscheslaw von Plehwe, von der Notwendigkeit eines "kleinen, siegreichen Krieges" gegen Japan, der alle innenpolitischen Probleme des Reiches lösen sollte. Ganz gewiss hat er nicht erwartet, dass nur ein Jahr später – auch infolge des eben nicht ganz so kleinen, nicht ganz so siegreichen Krieges – die erste Revolution in Russland ausbrechen würde. Der Zar musste der Einrichtung eines Parlaments zustimmen, Presse- und Parteienfreiheit garantieren. Und als Lenin Ende Januar 1917 vor einer Gruppe junger schweizerischer Sozialdemokraten in Zürich diese berühmten Worte sprach: "Meine Generation wird die entscheidenden Schlachten der kommenden Revolution nicht mehr erleben" – da hat er auch nicht gedacht, dass genau diese Revolution sechs Wochen später ausbrechen würde.

Ich selbst bin alt genug, um mich an die historischen Tage im August 1991 zu erinnern, als in Moskau eine Gruppe von Beton-Kommunisten versuchte, gegen Michail Gorbatschow zu putschen. Am Anfang jenes Monats hatte niemand erwartet, dass das alte, aber eben noch lebendige Sowjet-Regime ebendiesen August nicht überleben würde. Innerhalb von nur drei Tagen brach eines der schrecklichsten totalitären Herrschaftssysteme in der Geschichte der Menschheit endgültig in sich zusammen. So vollzieht sich Wandel in Russland.

Auf einen solchen schnellen Zusammenbruch müssen wir auch heute gefasst sein. Immer wieder haben die Regime in meiner Heimat, ob zaristisch, sowjetisch oder putinistisch, Kriege aus innenpolitischen Gründen begonnen – wie den derzeitigen in der Ukraine. Und immer wieder hatten diese Feldzüge die exakt gegenteilige Wirkung dessen, was erhofft war. Das galt für den Russisch-Japanischen Krieg ebenso wie für den Krim-Krieg im 19. Jahrhundert und für die Invasion in Afghanistan 1979. Ich bin überzeugt, dass Wladimir Putin seinen vermeintlichen Blitzkrieg gegen die Ukraine politisch nicht überleben wird.

Genau genommen hat Putin am 24. Februar 2022 zwei Kriege begonnen: den gegen die Ukraine und den gegen die unabhängigen Medien in Russland. Selbst für mich war es, nach zwanzig Jahren Oppositionsarbeit, beängstigend, zu sehen, wie schnell sich dieser Eiserne Vorhang vor unseren Augen senkte.

An einem Märzmorgen wachte ich in meiner Wohnung in Moskau auf, und es gab kein Twitter mehr, kein Facebook, keinen Radiosender Moskauer Echo mehr, kein TV Rain. Die meisten Russen leben heute in einer vollkommen orwellschen Realität, die der Staatsrundfunk schafft, und zwar buchstäblich: Krieg ist Frieden, Freiheit ist Sklaverei, Ignoranz ist Stärke. Selbst die sowjetische Propaganda enthielt oft noch kleine Spuren von Wahrheit, die dann verdreht wurde. Heute sind nicht einmal mehr diese Spuren von Wahrheit zu finden. Deswegen ist den meisten Russen nicht bewusst, welche grauenhaften Kriegsverbrechen ihr Land in der Ukraine verübt.

Die westlichen Demokratien müssen aus diesem Grund alles daransetzen, der russischen Bevölkerung wahrhaftige Informationen zugänglich zu machen, und zwar auf Russisch, um ihr die Augen zu öffnen. In den 1970er-Jahren ging das – die Deutsche Welle, Radio Free Europe oder die BBC funkten in die Sowjetunion hinein. Heute, im digitalen Zeitalter, wäre das ebenso möglich.

Ich habe trotzdem keinen Zweifel daran, dass das Putin-Regime infolge dieses Krieges kollabieren wird. Die Frage ist nicht, ob, sondern nur, wann. Wenn es passiert, wird sich Russland in einer Lage wiederfinden, die an das Deutschland von 1945 erinnert. Weil Putin innerhalb kürzester Zeit die wirtschaftlichen Errungenschaften der vergangenen 30 Jahre zerstört hat, wird Russland in Trümmern liegen.

Aber nicht nur ökonomisch werden wir unser Land völlig neu aufbauen müssen. Der Grund, warum unser Experiment mit der Demokratie in den 1990er-Jahren so kurzlebig war, ist, dass es in Russland nie eine wirkliche Entsowjetisierung gab. Die Verbrechen des kommunistischen Regimes wurden nie aufgearbeitet, die Archive nie geöffnet, all die Täter nie bestraft oder von der Macht ferngehalten. Diesen Fehler hat Boris Jelzin begangen, und wir leben bis heute mit den Konsequenzen, unter anderem in Form eines ehemaligen KGB-Offiziers, der seit mittlerweile über zwei Jahrzehnten das Land regiert.

Ebendiesen Fehler dürfen wir nicht noch einmal machen, wenn sich uns die nächste Gelegenheit zur Demokratisierung bietet. Wir brauchen nicht nur eine offizielle Verurteilung sowohl der kommunistischen Verbrechen wie der des Putinismus. Wir brauchen eine vollständige moralische Erneuerung, einen Prozess des Aufwachens und des Anerkennens der Vergangenheit. In Deutschland gab es dies sowohl nach dem Zweiten Weltkrieg wie auch nach dem Ende des DDR-Regimes. Jeder Ex-DDR-Bürger kann bis heute Einblicke in seine Stasi-Akten beantragen. In Russland gibt es nichts dergleichen. Der Sowjet-Geheimdienst und sein Nachfolger, der FSB, auf den Putin seine Macht stützt, ist eine kriminelle Organisation. Als solche hätten wir ihn schon längst behandeln müssen.

Der zweite Fehler aber, der in den 1990er-Jahren passierte, waren die Zurückhaltung und der Unwille, mit denen der Westen die zarte russische Demokratie begrüßte. Um nur ein Beispiel zu geben: Im Dezember 1991 schrieb der damalige russische Präsident Boris Jelzin einen Brief an den Nato-Generalsekretär Manfred Wörner, in dem er offiziell die Frage einer künftigen Mitgliedschaft Russlands im westlichen Bündnis aufwarf. Er bekam nicht einmal eine Antwort. Erst 1995 ließ die Clinton-Regierung Russland wissen, dass sie die Bewerbung zum Bündnismitglied unter bestimmten Bedingungen prüfen würde.

Diese vier Jahre waren eine Ewigkeit angesichts des rasanten Wandels, der sich in Russland vollzog – und mit Blick auf die Möglichkeiten, die in dieser Zeit verspielt wurden. Ein Faktor, der wesentlich zum Scheitern der russischen Demokratie beitrug, war, dass wir – anders als die übrigen Ex-Warschauer-Pakt-Staaten – niemals die Aussicht auf eine euroatlantische Integration hatten. Hätten wir sie gehabt, wäre das ein gewaltiger Treiber für Reformen gewesen, ebenso wie in Tschechien, der Slowakei, Polen oder den baltischen Staaten. Auch dieser Fehler darf sich nicht wiederholen.

An dem Tag, an dem wir beginnen, ein demokratisches Russland auf den Ruinen von Wladimir Putins Herrschaft zu errichten, müssen beide Seiten wissen, was sie zu tun haben: Wir Russen brauchen einen moralischen Neustart. Und der Westen wird uns jede erdenkliche Hilfe leisten müssen, und zwar in den Dimensionen eines Marshall-Plans. Wir brauchen die volle Einbindung in die zivilisierte Welt – zu der wir immer noch gehören. Russland ist nach wie vor das größte Land Europas. Deswegen kann der Traum eines Gesamteuropas, das vereint, frei und in Frieden lebt, nur mit Russland wahr werden. Ich glaube immer noch daran, trotz allem."

Protokolliert und aus dem Englischen übersetzt von Jochen Bittner

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