Über ein halbes Jahr hat die russische Gesellschaft in einer Scheinwelt gelebt. Sie hat den Krieg in der Ukraine ignoriert und hat sich des Lebens erfreut. Vielleicht war es im Unterbewußtsein das Wissen, dass diese sorglose Zeit bald ein Ende haben könnte. So wie der sorglose deutsche Sommer 1939.
Das Putin-Regime hatte mit seiner Bevölkerung einen unausgesprochenen Gesellschaftsvertrag: „Ihr lasst mich autoritär regieren und ich lass euch in Ruhe“ anders ausgedrückt: „Solange ihr euch nicht in die Politik einmischt, könnt ihr ein gutes Leben haben“. Chodorkowski, Nawalny, Politkowskaja, Nemzow…. Es sind nur ein paar wenige Namen von vielen, die sich nicht auf diesen Verkauf der Seele eingelassen haben. Jeder hatte einen hohen Preis zu zahlen.
So hätte es noch lange weitergehen können, kaum jemand in Russland hat diesen Gesellschaftsvertrag in Frage gestellt, jeder war froh, seine Ruhe zu haben und seinen Geschäften nachgehen zu können. Die mafiöse Elite des Landes hatte bis zum Februar diesen Jahres die Rohstoffe ausgebeutet und die Menschen wurden mit billigem Sprit zufrieden gestellt. Seit Februar bekam dieses System Risse, denn die Oligarchen hatten von ihrem Reichtum nichts mehr.
Das ist nun zu Ende und Putin wusste am Mittwoch genau was er tat. In seiner jüngsten Ansprache stütze er sich vorne über gebeugt auf der Tischplatte ab. Tiefe Falten in seiner Stirn. Putin hat die Entscheidung getroffen, diesen Vertrag zu kündigen. Er wusste genau, dass er viele Tausend junge Menschen in den Tod schickt und er weiß, dass er trotz allem keinen Erfolg haben wird. Zumindest ahnt er es. Egal wie es weitergeht. Russland und er können nicht mehr gewinnenen, selbst wenn er die Welt in den Abgrund stürzen sollte. Gewinnen kann Russland nicht mehr.
Die Kündigung kam in drei Schritten, zunächst schleichend. Vor ein paar Tagen kritisierte die National-Ikone Pugatschowa den Krieg sehr nachdrücklich. Sie ist nicht irgendein Popstar. Sie, die schon zu Breschenews Zeiten eine Berühmtheit war, hat ihre Millionen Fans gerade im Lager derjenigen die der Sowjetunion nachtrauern und das sind diejenigen die heute Putin vorbehaltlos unterstützen. Ihre Abwendung muss Putin in die Magengrube getroffen haben.
Putin wollte eine schnelle Militäroperation durchführen, während sich das Volk weiterhin vergnügt, Diese Rechnung ist nicht aufgegangen. Symbol ist das Riesenrad in Moskau, das er ausgerechnet am Tag seiner schwersten Niederlage in Charkiw einweihte.
Dann kam der Austausch von 215 Kriegsgefangenen aus der Ukraine, ausgerechnet Azov-Kämpfer und deren Kommandeure. Wo Putin den Krieg in der Ukraine doch ausgerechnet als Kampf gegen Nazis definiert, hat er jetzt ausgerechnet die von ihm so bezeichneten „schlimmsten Nazis“ mit der Ukraine ausgetauscht, dazu noch 4:1. „Nazis, die Putin doch eigentlich richten wollte, als Beweis für seinen Kampf gegen die Nazis." Seinen Kriegsgrund hat er somit ad absurdum geführt. Der Nazi-Vorwurf zieht in Russland nicht mehr, jetzt weiß jeder, dass es nicht um Nazis geht. Dass er bei diesem Deal noch ausgerechnet seinen seiner besten Freunde eingetauscht hat, reiht sich ein in das Elitedenken, dass schon der Sohn seines Pressesprechers Peschkow an den Tag legt. Es gibt eben doch Menschen dort, die sind gleicher als andere.
Dann die Mobilmachung. Bislang konnte man in Russland ganz gut durchkommen, wenn man sich nicht in die Politik einmischte. Schon in der Sowjetzeit war die alte Maxime: „Nur nicht auffallen“ Jetzt kommt der Krieg in jedes Haus, keiner kann mehr unpolitisch sein.
Journalisten, Oppositionspolitiker, Oligarchen kamen ums Leben oder ins Lager. Wer sich raushielt und ab und zu mal ein Fähnchen schwenkte, der wurde in Ruhe gelassen. Das war einmal. Fähnchenschwenken reicht nicht mehr um in Ruhe gelassen zu werden.
Damit ist nun Schluss. Seit Mittwoch sieht man Polizisten und Beamte Jagd auf gewöhnliche Bürger machen. Junge und auch ältere Männer müssen jederzeit befürchten, dass sie von der Strasse weg in die Kasernen entführt werden.
Das System ist selbst für brave Untertanen gefährlich geworden. Bald werden Familien ihre Söhne, Väter und Brüder beerdigen, die dachten sie könnten unbehelligt leben, wenn sie sich nur aus allem heraushalten.
Die Wahrheit über den Krieg wird sich nun sehr schnell verbreiten, da hilft weder Zensur noch Propaganda. Die strenge Militärzensur die zu Beginn des Kriegs erlassen wurde, wird jetzt von persönlichen Berichten der Soldaten, die sich nun Millionenfach im ganzen Land verbreiten, umgangen.
Es wäre aber zu kurz gegriffen, dafür den russischen Menschen die Schuld dafür zu geben. Wir sollten uns unser Verhalten der vergangenen Jahre anschauen, wie wir uns der billigen Energie zu liebe, von Putin abhängig gemacht haben. Da ist keine Regierungspartei der letzten 20 Jahre auszunehmen. Aber auch die Oppositionsparteien haben mit dem Augen-verschließen geglänzt.
Auch wir haben die Klappe gehalten, damit wir billig Energie bekommen, trotz der brutalen Vorgehensweise Putins im Kaukasus, in Syrien und nicht zuletzt auch seit 2014 im Donbas. Im Gegenteil, so mancher Politiker wollte trotz Donbas 2014 das Embargo gegen Russland aufheben, damit billiges Gas ihre Stuben wärmt.
Sich einzugestehen, dass man sich getäuscht hat, ist schmerzhaft. Der Lernprozess hat begonnen, hier wie dort.