Viele Kommentare auf Social Media legen den Verdacht nahe, dass die meisten Menschen nicht wissen, wie Energiepreise zustande kommen.
1998 wurde der Energiemarkt liberalisiert. Das bedeutet, Energie wurde zu einem normalen Handelsgut gemacht.
2002 wurde in Leipzig die European Energy Exchange (EEX) gegründet. Dort werden u.a. Strom und Gas wie Aktien gehandelt.
Angenommen ich bin ein Händler, der nicht mit Aktien, sondern mit Strom und Gas handelt.
Und dann sehe ich, dass Russland in die Ukraine einmarschiert.
Natürlich weiß ich, dass Deutschland zu über 50% Gas von Russland bezieht. Und natürlich kann ich mir denken, dass die EU etwas gegen den Angriffskrieg machen wird. Was mache ich also?
Richtig: Ich kaufe Gas.
Nicht real. Ich kaufe keinen Kanister voll Gas, den ich irgendwo lagern muss.
(Alter Bekannte machte genau so etwas mit Chemie: In Indien kaufen, in der Schweiz verkaufen, hat nie einen Tropfen der Chemie selber gesehen.)
Es ist zu erwarten, dass Russland den Energie-Trumpf ausspielen wird. Und Gas künstlich verknappt, um die EU unter Druck zu setzen sich rauszuhalten.
Ich kann also davon ausgehen, dass Gas demnächst scheinbar (!) knapp wird. Dieses „scheinbar“ reicht mir schon. Weil ich weiß, dass dadurch andere auf den Zug aufspringen werden. So kann ich sicher sein, dass eine Panik entsteht, und alle Gas kaufen wollen.
Deutschland ist aus einem anderen Grund heikel. Weil gerade erst eine längst geplante Erhöhung der CO2 Abgaben den Preis eh erhöht hat.
Also lehne ich mich zurück und schaue zu, wie die Panik immer größer wird. Wichtig ist für mich nur, den richtigen Moment abzupassen, bevor der Preis wieder fällt. Dann verkaufe ich mein Gas und habe einen satten Gewinn gemacht.
Das Gleiche mache ich natürlich bei Strom. Die Spielbank Börse.
Nun geht Russland hin und drosselt die Gaslieferungen komplett. Alle Medien berichten darüber. So kommt immer mehr Panik auf.
Dass die Regierung und viele Unternehmen längst nach Lösungen suchen und die Speicher immer voller werden, ist für mich völlig egal. Wichtig ist, dass der Markt „angespannt“ bleibt. So lange kann ich mehr für mein Gas und meinen Strom verlangen.
In der Praxis bedeutet das, dass durch den „Aktienhandel“ kein einfaches Verhältnis von Angebot und Nachfrage besteht. Selbst wenn genug da ist.
Erst war es das Benzin. Aber kaum jemand spricht noch darüber. Das funktioniert auch etwas anders.
Dann war es das Gas. Und jetzt ist es der Strom.
Aber in Deutschland werden nur etwa 13% des Stroms aus Gas produziert. Die Stromversorgung war immer gesichert. Im Gegenteil, Deutschland hat gerade einen Deal mit Frankreich gemacht, Strom gegen Gas zu tauschen. Wir haben also scheinbar genug Strom.
Die naheliegendste Antwort, die Populisten den Leuten weiß machen, ist natürlich, dass die „Energiepolitik“ der Grünen der Grund sein muss. Dabei haben die bis jetzt gar nichts groß geändert. Die ganze Regierung nicht, da Gesetzesänderungen ja auch von der SPD und der wirtschaftsliberalen FDP mitgetragen werden müssen.
Es werden doch keine Kraftwerke jetzt mal eben abgestellt, weil dann irgendwann erneuerbare Energien kommen sollen. Im Gegenteil, es wurden zwei Kernkraftwerke auf Reserve gesetzt. Weil auch die realpolitischen Grünen schon längst gesagt haben: Besser Kernkraft als Kohle.
Trotzdem klettern die Preise. Und scheinbar fragt sich keiner, warum jetzt auch der Strompreis hoch geht. Mit dem Russland gar nix zu tun hat.
Wenn ein Politiker sagt, dass Maßnahmen ergriffen werden, um den Markt zu beruhigen, wird das nicht verstanden.
Das dient ausschließlich dazu, diese Panik zu verringern. Das ist eigentlich schon alles.
Und jedes einzelne Posting darüber, wie schlecht es uns ja geht und dass wir am Abgrund stehen, verzögert das.
Keiner, wirklich niemand, kann tatsächlich prognostizieren, was der Rotz demnächst kosten wird. Eben weil es von dieser Börse abhängt. Und alle Hochrechnungen gehen von dem Jetzt- und Ist-Zustand aus. Das kann sich aber auch wieder ändern.
Einige Prognosen gehen davon aus, dass der Strompreis sich (von 2021) bis Frühjahr 2023 verfünffachen könnte.
▶️ Und keiner fragt sich, was die jetzige Regierung gemacht haben soll, dass Strom so teuer wird.
✳️ Eigentlich sind doch ganz andere Fragen zu stellen.
▶️ Warum einzelne Linke und AfDler wollen, dass die wirkungsvollen Sanktionen gegen Russland eingestellt werden, obwohl das mit hoher Wahrscheinlichkeit kaum etwas an den Einkaufspreisen ändern dürfte.
▶️ Warum die Gaspreise in den Niederlanden und Schweden derzeit höher als in Deutschland sind.
▶️ Was die Regierungen Kohl, Schröder und Merkel da seit dreißig Jahren eigentlich genau gemacht haben. Und warum man Deutschland immer abhängiger von einem Land gemacht hat, das für alle sichtbar immer weiter Richtung nationalistisches Regime gewandert ist?
▶️ Warum Energiekonzerne über Jahrzehnte hinweg derart gefördert wurden. Warum ein Konzern wie BASF eigene Pipelines baut, das Gas in Russland fördert, an Russland verkauft und in Deutschland dann zurückkauft.
▶️ Warum es kleinen Stromproduzenten wie Bauern mit Photovoltaik und Biogas in den vergangenen Jahren quasi unmöglich gemacht wurde, ihren Strom zu verkaufen und er ungenutzt verpufft?
▶️ Welche Lobbyarbeit die großen Energiekonzerne in den letzten Jahren betrieben haben.
▶️ Und vor allem: Warum erlaubt wird, ein so fundamentales und überlebensnotwendiges Gut wie Energie überhaupt wie Aktien zu handeln?
Natürlich ist der Auslöser Russlands Einmarsch in die Ukraine. Aber der Scheiß, der daraus resultiert, der ist mal schön hausgemacht. Und sicher nicht von einer Regierung, die nicht einmal ein Jahr im Amt ist.
Und ich bin inzwischen nur noch erschüttert, wie viele Menschen populistisch auf die Kacke hauen und unabhängig von Grün oder Nicht-Grün völlig an den Realitäten vorbei argumentieren.
▶️ Von mir aus hasst die Grünen und habt Angst vor der Zukunft. Aber das berechtigt doch nicht dazu, die Realitäten zu verdrehen.
Wir sind doch nicht in einer Planwirtschaft. Wir sind doch nicht in Nordkorea oder der DDR. Die Politik kann doch nicht einfach so in die Preise des Marktes eingreifen. (Eine Gaspreisbremse ist ja bereits in Arbeit, so einfach ist das wohl nicht.)
Ich verstehe diese kognitive Diskrepanz nicht, in der einige Leute sich scheinbar aus purer Egozentrik und Angst befinden: Einerseits will man mehr Mitsprache und direktere Demokratie. Und auf der anderen Seite erwartet man von der Regierung, dass die wie ein König einfach mal Preise diktiert.