Aktuell sorgt ein offener Brief, den - laut Pressemeldungen - 200 Ärzte und Mediziner unterschrieben haben, für Aufsehen. In einigen Medien wurden daraufhin angebliche Faketenchecks publiziert, die aus objektiver Sicht teils fragwürdigste Behauptungen enthalten. Der freie Journalist und unabhängige Blogger Erin Zeykowitsch hat recherchiert. Hier sind seine Ergebnisse.
Edit: In einem in einem Boulevarmedium erschienen Faktencheck wurde die Autorenschaft und die Mehrheit der unterzeichnenden Mediziner als "hauptsächlich Gynäkologen, Zahnärzte und Allgemeinmediziner" zusammengefasst. Das ist mit Blick auf die aus dem Bundesland Salzburg stammenden Mitunterzeichner sicher richtig - verschwiegen wird dabei aber, dass auch namhafte Wissenschafter und Universitätsprofessoren, darunter auch mindestens ein unbestrittener Experte für Infektiologie, Epidemiologie und Tropenmedizin als Unterzeichner des offenen Briefes genannt werden. Diese Information ist deshalb wesentlich, da der offene Brief natürlich ein anderes Gewicht bekommt, wenn sich tatsächlich mehrere Universitätsprofessoren auf interdisziplinärer Basis den dort enthaltenen Aussagen angeschlossen haben. (Edit Ende)
Die erste Behauptung: die zitierten Studien belegen die Position der unterzeichnenden Ärzte und Mediziner angeblich nicht.
Diese Aussage ist aus meiner Sicht falsch. Wer immer sie getätigt hat, kommt auf dieses Ergebnis vielleicht auf Basis anderer Studienergebnisse, die im Faktencheck jedoch nicht näher genannt werden - sie ist aber aus meiner Sicht abweichend auch von der Auffassung mancher im offenen Brief zitierten Studienautoren.
Im offenen Brief heißt es dazu beispielsweise: "Während man bis vor wenigen Wochen davon ausging, dass die COVID-19 Grundimmunisierung Schutz gegen die Erkrankung gewährt, ist mittlerweile wissenschaftlich belegt, dass dieser Schutz erstens allenfalls hinsichtlich schwerer Verläufe relevant ist und zweitens nach spätestens sechs bis sieben Monaten statistische Signifikanz verliert (siehe z.B. https://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=3949410)."
Im direkt verlinkten Paper lesen wir dazu im Originalwortlaut der Studienautoren: "Vaccine effectiveness of BNT162b2 against infection waned progressively from 92% (95% CI, 92-93, P<0·001) at day 15-30 to 47% (95% CI, 39-55, P<0·001) at day 121-180, and from day 211 and onwards no effectiveness could be detected (23%; 95% CI, -2-41, P=0·07)." Mit anderen Worten: die Wirksamkeit des hier besprochenen Vakzins sinkt signifikant über einen Zeitraum von 180 bis 211 Tagen, was ziemlich genau 6 bis 7 Monaten entspricht. Für die Wirkung anderer Vakzine liegen gesonderte Ergebnisse vor, die jedoch auch sehr klar in einem ähnlichen Zeitraum nachlassen, und so eine erneute Booster Impfung notwendig machen, wie auch die Studienautoren in ihrer eigenen Interpretation im verlinkten Dokument aussagen.
Warum hierdurch die im offenen Brief getätigte Aussage angeblich NICHT belegt wird, bleibt offen. Aus meiner Sicht bestätigen diese Ergebnisse sehr genau die im offenen Brief getätigten Aussagen dazu.
Die zweite Behauptung: Wer doppelt Geimpft ist, ist sicher auch gegen Omicron mit einem gewissen Schutz ausgestattet.
Das mag durchaus sein. Die Frage ist was man sich als medizinischer Laie unter einem "gewissen Schutz" vorstellen kann. Im deutschen Ärzteblatt lesen wir dazu jedenfalls: "Oxford – Erste Laborstudien unter Verwendung von „lebenden“ Omikron-Viren, die bei einem Patienten isoliert wurden, bestätigen den Verdacht, dass die neue Variante von SARS-CoV-2 sich weitgehend dem Immunschutz durch eine doppelte Impfung mit AZD1222 oder BNT162b2 entzieht. Ergebnisse wurden in medRxiv (2021; DOI: 10.1101/2021.12.10.21267534) veröffentlicht.)" (Quelle: https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/130078/COVID-19-Laborstudie-bestaetigt-geringe-Schutzwirkung-der-Impfung-gegen-Omikron)
Im offenen Brief wird der Impfschutz gegen Omicron als unbekannt dargestellt. Dies weist auf eine sehr vorsichtige und umsichtige Interpretation der aktuellen Studien- und Datenlage hin. Natürlich bestätigt diese Quelle aber auch, dass der Schutz der Impfungen gegen Omicron nicht Null ist. Wenn dies mit "einem gewissen Schutz" gemeint ist, ist die Aussage absolut richtig. Wie hoch dieser ist, ist gegenwärtig aber - auch nach meiner Recherche - nicht hinlänglich bekannt.
Die dritte Behauptung: bei den gegenwärtig im Einsatz befindlichen Corona Impfungen gäbe es viel zu viele Nebenwirkungen.
Diese Behauptung findet sich im der mir vorliegenden Ausgabe des offenen Briefes schlichtweg nicht. Was gesagt wurde, ist, dass die eingemeldete Zahl an potentiellen Impfnebenwirkungen schlicht erschreckend ist. Ein Blick auf vigiaccess bestätigt dazu, dass gegenwärtig bereits 2.739.819 Verdachtsfälle auf ADRs (Adverse Drug Reactions) innerhalb nur eines Jahres in dem diese Impfstoffe im Einsatz sind, in die offizielle Datenbank der WHO eingemeldet wurden. Im Vergleich dazu beträgt die Zahl an Einmeldungen zu potentiellen ADRs eines als Pferdemedikament und Wurmmittel deklassierten Präparates über 30 Jahre nur um die 5.700 Einmeldungen. Dass dieses Missverhältnis tatsächlich erst einmal erschreckend ist, ist unbestritten.
Fraglich bleibt, warum Medien nicht objektiv und neutral über diesen Sachverhalt berichten, sondern stattdessen eine sehr einseitige Position als ultima ratio selbst des Wissenschaftlichen Diskurses darstellen. Was der offene Brief in jedem Fall belegt, ist aber die Tatsache, dass die dort genannten Beobachtungen auch in Wissenschaft und Medizin durchaus kontovers diskutiert werden können. Es bleibt zu hoffen, dass Boulevardmedien nicht auch noch meinen diesen Diskurs als wesentliche Erkenntnisquelle naturwissenschaftlicher und medizinischer Forschung auch noch vorweg nehmen zu müssen.