Wer sich im gegenwärtigen Umfeld der politischen Korrektheit ein ausreichendes Maß an unabhängigem Denken bewahren konnte und sich von der massiven staatlichen und medialen Propaganda nicht einnehmen hat lassen, der befindet sich zur Zeit vermutlich in dem Geistes- und Gefühlszustand, den die Psychologen als kognitive Dissonanz bezeichnen. Wunschdenken und das Resultat nüchterner Einschätzung der Zukunft klaffen dann weit auseinander.

Hat man sein ganzes Leben unter der Ägide der liberalen Demokratie verbracht, sich rationales statt moralistisches Denken bewahrt, und Vergleiche zu anderen Systemen gezogen, dann kann man diese Staatsform in ihrer optimalen Ausprägung nur als die beste Art von Jurisdiktion betrachten, die es in der Geschichte der Menschheit bislang gegeben hat – vorausgesetzt natürlich man weiß ein wenig über die Geschichte der Menschheit Bescheid. Es wäre aber unsinnig, zu leugnen, daß sich dieses politische System, wie wir es bis vor kurzem noch kannten, in einer Rückbildung befindet – wahrscheinlich nicht endgültig, wohl aber für die Dauer von einigen Jahrzehnten.

Gesellschaftliche Veränderungen von langanhaltender Bedeutung beginnen gelegentlich (wenn auch sicherlich nicht immer) mit einem überraschenden Paukenschlag, gefolgt von einer länger anhaltenden Ruhe, nach der sich die Ereignisse erst allmählich und für die Allgemeinheit kaum merklich zu einem Trend verdichten, während die Prinzipien, die lange Zeit gegolten hatten, anfänglich langsam aber in zunehmendem Maße erodieren und neuen Vorstellungen das Feld räumen.

Der Versuch, einen politischen und gesellschaftlichen Zeitgeist zu kippen, ist nur dann erfolgreich, wenn er dort einsetzt, wo die betreffende Weltanschauung ihre größte Machtentfaltung erreicht hat. Daher begann der Rückzug des Feudalismus mit der bürgerlichen Revolution in Frankreich, dem damals mächtigsten kontinentalen Herrschaftsbereich, in dem der monarchische Absolutismus stärker ausgeprägt war als in allen anderen europäischen Fürstentümern. Es wäre zum Beispiel auch nicht zum Fall der Berliner Mauer gekommen, hätte nicht davor ein Rückzug des Kommunismus in der Sowjetunion eingesetzt. Die davor versuchten Ansätze eines Systemwechsels, die Aufstände in Berlin (1953), Posen (1956) und Ungarn (1956) und der sogenannte Prager Frühling (1968), hatten dagegen von Anfang an keine Chance auf Erfolg, denn sie ereigneten sich nicht im Zentrum der kommunistischen Herrschaft, das ja in Moskau lag.

Die Französische Revolution kann man sicherlich als ein Paukenschlag-Ereignis charakterisieren, während sich die Sowjet-Diktatur mit Gorbatschows Glasnost und Perestroika relativ langsam und friedlich verabschiedete. Mit einem in der ganzen Welt beachteten Vorfall begann dagegen der Rückzug der liberalen Demokratien, und zwar schon 1995 und auch in dem Land, das dieses System am mächtigsten repräsentierte. Der Freispruch des Doppelmörders O.J. Simpson durch zwölf Geschworene war ein wirklicher Paukenschlag, weil er der Welt zum ersten Mal etwas signalisierte, das nach Jahrzehnten liberal-demokratischer Ordnung kaum noch jemand für möglich hielt: Ein auf formalen Gesetzen beruhendes System kann ganz offen und von innen her ausgehebelt werden, wenn ideologische Vorstellungen beginnen, sich in den Hirnen von Menschen einzunisten, diese zu dominieren, und das Verhalten dieser Individuen zu lenken.

Beginnt ein Umschwung mit einem vehementen Vorfall, dann herrscht hinterher meist eine längere Ruhe, nach der die Entwicklung mit zunächst weniger ausgeprägten Ereignissen wiedereinsetzt, und sich der Trend dann langsam verstetigt. So folgte der französischen Revolution erst einmal die Restauration der absoluten Monarchie, und der Liberalismus benötigte mehr als ein Jahrhundert, um sich in ganz Europa langsam durchzusetzen. Nach der Simpson-Affäre herrschte zunächst ebenfalls einige Zeit lang eine Schockstarre, und nur allmählich aber in zunehmendem Maße traten neue Verletzungen der Rechtsstaats-Prinzipien auf und erreichten dann zwanzig Jahre später im September 2015 ein neues Zwischenhoch: Niemand geringerer als das Regierungsoberhaupt des damals noch mächtigsten kontinental-europäischen Landes öffnete bedingungslos die Grenzen ihres Hoheitsgebiets und beging damit einen Bruch der Verfassung, mit der alle Gesetze und Handlungen der Regierenden in Einklang stehen müssen. Daß diese Maßnahme von der Mehrheit der Bevölkerung unterstützt wurde, zeigt, daß es sich hierbei um einen bereits etablierten Trend handelte.

In zunehmendem Maße werden nun neue Gesetze verabschiedet, die das Grundprinzip des demokratisch-liberalen Rechtsstaats, die individuelle Rede- und Meinungsfreiheit, zugunsten kollektivistisch begründeter Normen immer weiter einengen. Formales Recht räumt nun das Feld Schritt für Schritt verschiedenen ideologisch und emotional begründeten Moralisierungen. Ein auf Moralvorstellungen aufgebautes politisches System ist aber in seinen Grundfesten instabil, weil Moral nicht rational begründet werden kann, sondern eine persönliche Empfindung darstellt, die individuell und kulturell uneinheitlich ist und im Zeitablauf wandelnden emotionalen Schwankungen unterliegt. Die Menschheit muß sich daher für die kommenden Jahrzehnte auf beträchtliche politische und wirtschaftliche – und ja, auch auf militärische - Volatilität einstellen.

Aber eine Hoffnung bleibt: Es scheint ein Naturgesetz zu sein, daß es weniger Zeit in Anspruch nimmt, etwas zu zerstören als es vorher oder hinterher aufzubauen. Das gilt sowohl im dinglichen als auch im ideellen Sinne. Es dauert beträchtlich länger, einen Neubau zu erstellen als ein Gebäude mit der Abrißbirne zu zertrümmern oder mit Dynamit in einen Schutthaufen zu verwandeln. Die einer wirtschaftlichen Expansion folgende Kontraktion ist immer kürzer als der vorangegangene Aufschwung und die nachfolgende Erholung. Nach jeder Rezession folgte bisher immer wieder eine Hochkonjunktur, die wesentlich länger anhielt als die vorangegangene Krise. Dieses Prinzip gilt natürlich nur, wenn ein Ereignis nicht endgültig ist, wie zum Beispiel der Tod eines Organismus oder das Aussterben einer Spezies.

Gehen wir also davon aus, daß der zur Zeit in Gang befindliche Niedergang der liberalen Demokratie nicht die einhundertfünfzig Jahre anhalten wird, die dieses System benötigte, um ihr bisheriges Optimum zu erreichen, dessen wir uns in der zweiten Hälfte des Zwanzigsten Jahrhunderts erfreuten. Der menschlichen Rasse ist der endgültige Untergang schon oft vorausgesagt worden aber er ist bisher immer ausgeblieben. Nach den Gesetzen der mathematischen Wahrscheinlichkeits-Theorie ist daher durchaus die Hoffnung berechtigt, daß die Spezies homo sapiens als Gesamtheit die Turbulenzen der nächsten Jahrzehnte überstehen wird, wenn auch sehr wahrscheinlich mit einer drastisch reduzierten Zahl von Individuen. Der Verfasser dieser Zeilen und die meisten die diesen Beitrag lesen, werden den Tiefpunkt des Niedergangs und das nachfolgende Wiedererstarken der liberalen Demokratie nicht mehr erleben.

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