Selten zuvor hat eine Wahl die Branche der Meinungsforschung in ein derart schlechtes Licht gerückt wie die Wiener Gemeinderatswahl 2015. Wochenlang dominierten Umfragen die Medien, welche SPÖ und FPÖ Kopf an Kopf zeigten; am Ende trennten die beiden Parteien fast 10 Prozentpunkte. Vereinzelt ist die Rede von eventuell absichtlich frisierten Daten, um in quasi vorauseilendem Gehorsam vor allem gewisse einschlägig bekannte Wiener Print-Medien mit mehr oder weniger offenem Naheverhältnis zur SPÖ ein der Mobilisierung der Genossen zuträgliches Szenario zu liefern.
ÖVP und Grüne monieren, das Duell um Wien zwischen Rot und Blau sei jeher ein künstliches gewesen und habe eine beträchtliche Anzahl ihrer Sympathisanten dazu bewegt, ihre Stimme stattdessen einer der beiden anderen Parteien zu geben. Auf solche Weise zu ihrer Abstimmung bewegte Wählern gelten als "taktische" und ihre Stimmen als "Leih-Stimmen", ja geradezu als Stimmen 2. Klasse, nicht vergleichbar mit jenen, die aus voller inhaltlicher Überzeugung einer Partei ihr Vertrauen geschenkt haben.
Allein diese pejorativen Attribute bei der fiktiven Bewertung der Motivation einer Stimmabgabe muten seltsam an, doch ohne Zweifel haben Umfragen Auswirkungen auf die Wahlentscheidung. Ist es da nicht naheliegend, ein Verbot von Wahlumfragen in den letzten Wochen vor dem Wahltag zu fordern? Schließlich soll sich der Wähler doch ohne Manipulation seine politische Meinung bilden und danach abstimmen können. Doch was heißt eigentlich - "ohne Manipulation"?
Selbstredend mag ein in Umfragen besonders knapp ausgewiesener Abstand zweier Parteien den einen oder anderen Wähler dazu verleiten, aus taktischen Gründen eine andere Partei zu wählen als er ursprünglich vorhatte. Doch ist die Entscheidung, einer bestimmten Partei seine Stimme zu geben, bis zur endgültigen Stimmabgabe immer nur eins: vorläufig. Und offensichtlich wog das Motiv etwa für viele Grün-Sympthisanten, einen möglichst großen Abstand zwischen SPÖ und FPÖ sicherzustellen, schwerer als die ihnen inhaltlich näher stehenden Grünen zu wählen. Der Hinweis, das amtliche Endergebnis mit großem Abstand zwischen Rot und Blau demonstriere, daß eine derart taktische Entscheidung nicht "nötig" gewesen sei, mutiert zum argumentativen Bumerang; ohne diese vermeintlichen Leih-Stimmen für die SPÖ wäre der Abstand eben gerade nicht so deutlich ausgefallen.
Das Argument, Umfragen würden die Wahlentscheidung des Wählers in ungebührlich hohem Ausmaß beeinflussen - und zwar umso stärker je näher der Urnengang rückt -, entpuppt sich bei näherer Betrachtung als Infragestellung jeglicher meinungsbildender Berichterstattung an sich. Politische Ansichten bis zu einer Wahlentscheidung formen sich aber nicht im meinungsleeren Raum, sondern gerade in Auseinandersetzung mit den mannigfaltigen Informationen, die der Medien konsumierende Wähler zur Verfügung hat: von Glossen und Kommentaren über Berichterstattung bishin zu Umfragen.
Gerade in einem Mehr-Parteien-System ist die berühmte Koalitionsfrage des "wer mit wem" nach Wahlen von großer Bedeutung für die individuelle Wahlentscheidung. Die voraussichtliche ungefähre Verteilung der Stimmen auf die einzelnen Parteien zumindest annähernd im Voraus zu kennen stellt in gewisser Weise gar eine hinreichende Bedingung für eine umfassende Wahlentscheidung dar. Schließlich will der Wähler über die Zusammensetzung des Parlaments hinaus indirekt auch Einfluß auf die daraus resultierende Zusammensetzung der Regierung nehmen. Wahlumfragen bieten dafür Anhaltspunkte, auf die wir nicht leichtfertig verzichten sollten.