Soziale Netzwerke sind eine eigene Welt. Nein, das wäre untertrieben. Sie sind ein eigenes Sonnensystem, das wir gerade erst erkunden. Nur, dass sich hier nicht die Frage stellt, ob es denn nun heliozentrisch oder geozentrisch ist, denn soziale Netzwerke sind immer egozentrisch. Unser Ich steht im Mittelpunkt, alles andere dreht sich um uns herum. Unsere Timelines sind individuell für uns maßgeschneidert, ausgewählte Inhalte stärker mit uns verbunden, als es durch Gravitation je bewerkstelligt werden könnte, nämlich durch Interesse. Kontakte ordnen wir in diesem sozialen System wie Planeten in Umlaufbahnen um uns an, die einen in weiter Entfernung bis hin zur Instabilität, die anderen nahe bei uns bis zur Verschmelzung. Unterstützt werden wir dabei von unsichtbaren Algorithmen, die unsere Interessen erfassen und für uns vorselektieren. Doch auch wenn wir dafür ab und an einmal einen Impakt in Form einer durch unsere Privatsphäre dringenden und auf unserem Planeten einschlagenden Werbeanzeige überstehen müssen, nehmen wir das in Kauf.
In dieser um uns rotierenden Wolke aus Kontakten und von selbigen geteilten Inhalten finden sich auch besonders beliebte Postings, die durch tausende Verbreitende permanent am Leben gehalten werden und an einem Tag wohl mindestens achtzigmal um die Welt gehen. Es sind Inhalte, die nie auszusterben scheinen, die immer wieder AdressatInnen finden, die es für noch nicht zu ausgelutscht halten und deren Belohnungssystem danach lechzt, durch das Posten erneut Zuwendung und Bestätigung zu finden. Darauf sind diese Inhalte nämlich meistens ausgelegt, darin begründet sich deren Popularität. Es handelt sich um mittelmäßige, aber eingängige Lyrik, erbauende Sprüche, Liebesweisheiten, die gebrochene Herzen ohnehin wieder mehr verwunden als heilen, und ziemlich kluge (aber nicht zu komplexe!) Zitate besonders renommierter Persönlichkeiten, bei denen es aber egal ist, ob sie wirklich so gefallen sind oder nicht, wie etwa der angebliche Spruch über das Bienensterben von Einstein. Dabei geht mir persönlich ein gängiger, oft von Personen, deren Weltanschauung ich ohnehin kaum teilen kann, verbreiteter Satz besonders auf die Nerven, der auch in meinem eigenen Online-Orbit kursiert. Egal ob in schlichtem Schwarz auf weißem Hintergrund oder vor der deutschen/österreichischen Fahne, könnte ich vomieren, wenn ich lese: „Ich bin nach 1945 geboren, ich schulde der Welt einen Scheiß!!!“.
Abgesehen von der übertriebenen Verwendung des Ausrufezeichens gibt es nämlich mehrere Gründe, warum dieser Satz absoluter Schwachsinn ist. Faktisch mag er zwar durchaus seine Berechtigung, einen wahren Kern haben, denn natürlich war man an den Verbrechen des Nationalsozialismus nicht beteiligt, wenn man zu diesem Zeitpunkt noch nicht auf der Welt war. Aber davon distanziert sich der Spruch ja nicht einmal! Es heißt ja nicht: „Ich bin nach 1945 geboren, ich war an den scheußlichen Verbrechen der Nazis nicht beteiligt!!!“. Das wäre ja noch eher zu akzeptieren, auch wenn selbst hier eine Prise dessen mitschwingt, was der eigentliche Spruch dann perfektioniert. Nämlich die Distanzierung von jeglicher Verantwortung, sich zur Besserung und Erhaltung einer friedlichen Gesellschaft mit den Verbrechen der VorfahrInnen auseinanderzusetzen, diese zu reflektieren und als Mahnung im kollektiven Gedächtnis zu erhalten. Genau darum geht es nämlich.
Schenk uns bitte ein Like auf Facebook! #meinungsfreiheit #pressefreiheit
Danke!
Sicher haben die meisten der heute lebenden Menschen keinen direkten Anteil an den Verbrechen des Nationalsozialismus. Sehr wohl tragen wir allerdings noch immer einen Teil dessen in uns, was damals durch rassistische und antisemitische Ideologie und durch eine völkische Identifikation mit Führer und Vaterland aktiviert und instrumentalisiert wurde, in solchem Ausmaß, dass dessen Nachwehen uns auch heute noch erschüttern. Wir haben diesen Teil nicht verloren, wir haben ihn lediglich weggesperrt, in der Hoffnung, dass ihn die nachfolgenden Generation vielleicht endgültig verbannen können.Allzu gerne wird versucht, eine Grenze zwischen den damaligen Ereignissen und der Gegenwart zu ziehen. Die damaligen Verantwortlichen werden verteufelt und als das pure Böse, als etwas Unmenschliches dargestellt, völlig abgekoppelt von der Realität und vom heute Möglichen. Die damaligen Menschen werden entweder als dumme, gefühlskalte Faschisten imaginiert oder, wenn man eventuell von eigenen FamilienvorfahrInnen oder persönlich bekannten Menschen spricht, in die Rolle verführter und unmündiger Naivchen gedrängt. Beides ist falsch und gefährlich. Denn es waren Menschen wie wir, technisch und geistig vielleicht noch nicht so weit fortgeschritten, aber durchaus keine Neandertaler. Es gibt keine Grenze zwischen denen und uns. Der Nationalsozialismus muss von seiner historischen Singularität entkoppelt und vor allem als psychologisches Phänomen verstanden werden. Es geht vielmehr um Führerbild und Rassismus als nur um Hitler und Antisemitismus. Was damals passiert ist, könnte genauso gut auch heute noch passieren und hätte sich diese unterbewusste Identitätskrise, die in uns allen steckt, die nach Gruppenzugehörigkeit und Abgrenzung gegenüber anderen strebt und sich in ihrer radikalen Ausprägung in überzogenen Formen von Nationalstolz und Fremdenhass äußert, nicht damals so horrend kollektiv aufgestaut und durch eine vorgegebene, leicht zu akzeptierende und propagierende Ideologie intensiviert, würde es heute wohl nicht bei ein paar „besorgten Bürger“ bleiben, die unsere Versuche des friedlichen Zusammenlebens verseuchen, weil sie tatsächlich glauben, sie seien etwas Besonderes und hätten sich die Privilegien verdient, in die sie hineingeboren wurden. Und daher heißt es, die mahnenden Flaggen der Erinnerung hochzuhalten, denn eine Wiederholung der Ereignisse kann nur durch eine ausführliche Aufarbeitung und eine bewusste Reflexion des Geschehenen verhindert werden.
Ich bin kein Freund der Erbschuld und betrachte auch niemanden, dessen Familienmitglieder den Nationalsozialismus unterstützt haben, als an den Verbrechen von damals schuldig. Allerdings ist auch hier die historische Schuld von der moralischen zu trennen. Und auch wenn wir uns von den Verfehlungen unserer VorfahrInnen wohl distanzieren dürfen, ist es unsere eigene Verpflichtung, unsere Verantwortung gegenüber der Menschheit, uns damit zu beschäftigen, wie es so weit kommen konnte, die gruppendynamischen Prozesse und ideologischen Versuchungen zu analysieren und sie auf die Gegenwart umzulegen, um alles und jeden zu detektieren, der/die/das in diese Richtung abzudriften droht und dort sofort entgegenzusteuern, bevor das Fahrzeug, in dem wir auf unserer Reise entlang des menschheitsgeschichtlichen Abgrunds alle gemeinsam sitzen, ins Schleudern gerät.
Aber das muss man erstmal verstehen. Und die meisten von denen, die diesen Spruch posten, verstehen eben nicht, worum es geht. Das sind auch diejenigen, die sich „Die Welle“ oder „Das Experiment“ gar nicht erst ansehen wollen, weil sie bereits da unterbewusst zu blocken beginnen, das sind diejenigen, die das Ende von „American History X“ falsch interpretieren und "Lügenpresse!" schreien, wenn sich etwas nicht mit ihrem Weltbild vereinbaren lässt. Das sind gerade diejenigen, die sich am ehesten ihren VorfahrInnen verbunden fühlen, die immer wieder darauf verweisen, dass dieses Land (sic!) doch genau von denen aufgebaut wurde, von denen sie genetisch abstammen. Natürlich nicht nur von ihrer Familie, aber das ist ja egal, solange die anderen am Aufbau beteiligten Familien innerhalb der Grenzen sesshaft waren. Aber wären nicht genau diese Menschen durch ihr Bekenntnis zu ihren VorfahrInnen am ehesten in die Schuld für deren Fehlverhalten zu nehmen? Vielleicht versuchen sie sich gerade deswegen so vehement davon zu distanzieren.Übrigens ist es auch heute im Rechtswesen üblich, dass man bei einem Erbe auch die Schuld des/r Verstorbenen automatisch übernimmt, solange man sich nicht in den ersten Wochen davon distanziert. Es ist sicher das Recht jedes Menschen, nichts mit den Verfehlungen der VorgängerInnen zu tun haben zu wollen. Wenn man sich von der historischen Schuld unserer direkten VorfahrInnen und unserer kollektiven Geschichte distanzieren will, bitte ich aber, dies durch eine selbstkritische Reflexion der Vergangenheit zu bewerkstelligen und nicht durch plumpe Parolen.