Als ich mich das erste Mal mit Arabern prügelte - ich weiss auch heute noch nicht, ob es Algerier, Marokkaner oder andere gewesen sind - war ich gerade mal 20 Jahre alt. Es war in Avignon. Ich war mitten in der Nacht aufgewacht und hörte Schreie. Ein Geheul, das nichts Menschliches an sich hatte. Erst dachte ich, da würde ein Hund verprügelt, sprang aus dem Bett, rannte die Treppe hinunter und auf die Strasse. Es war kein Hund. Zwei Araber traten auf einen dritten ein, der am Boden lag. Als Mädchen vom Land und in massloser Selbstüberschätzung ging ich auf die beiden los. Dass sie kurz darauf von dem Dritten abliessen und davonrannten hatte weniger mit meinen ungelenken Schlägen, als mit meiner Brüllerei zu tun: In diversen Fenstern rundum war Licht angegangen. Ohne dass er ein Wort gesagt hätte, rappelte sich auch der dritte auf und humpelte davon.
Ich ging wieder hoch. Oben an der Treppe stand meine beste Freundin und Nachbarin, eine algerische Berberin. Anstatt mich zu hätscheln, wie ich es verdient zu haben glaubte, machte sie mir Vorwürfe. Man dürfe sich in solches nicht einmischen. Ich hätte die Ehre sowohl der Prügler, als auch des Geprügelten verletzt. Auf meine Frage, was das für eine Scheiss-Ehre sei, die es vorziehe sich zu Tode treten anstatt helfen zu lassen, sagte sie nur: "Das kannst du nicht verstehen."
Sie hatte recht: Ich verstand es nicht. Weder damals noch später. Was ich indes begriff, war, warum wir als Gruppe junger Menschen, zu der eben auch meine Nachbarin, ihre Brüder und weitere Araber zählten, jeweils den halben Samstagabend damit verbrachten, von Club zu Club zu pilgern, bis wir einen Türsteher fanden, der uns kannte und einliess. Wer uns nicht kannte, wäre blöd oder blind gewesen, uns Einlass zu gewähren. Das hatte mit Rassismus nicht das Geringste zu tun. Araber, die man nicht kannte in den eigenen Club oder das Restaurant hinein zu lassen, war eine Art 50:50-Wette. Ebenso gut konnte es sich dabei um junge Menschen handeln, die bloss tanzen wollten, wie um eine Gruppe Pöbler, die bereits beim ersten Tisch, an dem sie vorbeigingen, wie zufällig ein Glas herunterstiessen, beim zweiten erneut und spätestens beim dritten eine Schlägerei vom Zaun gerissen hatten. Was dabei herauskam, war stets dasselbe: die Bestätigung des eigenen Opferseins und die Begründung dafür, dass es einen Grund gab, sich gegenseitig zu hassen.
Das Erleben solch zerrissener Wirklichkeit zerreisst auch einen selber. Aber auch hier: Mit grundsätzlichem Hass hat das nichts zu tun, sondern ausschliesslich mit Selbstschutz. Wer etwas anderes behauptet, hat schlicht keinen Schimmer, wovon er spricht. Dass solches Sich-Schützen zu Verletzungen führt, ist unvermeidlich. Meine Freundin von damals ist daran zerbrochen. Nicht an den Franzosen, sondern an dem Misstrauen, das ein Teil der "eigenen Leute" nicht zu säen müde wurden und immer aufs neue zu bestätigten. Du weisst nie, zu welcher "Sorte" der gehört, den du kennen lernst, also bist du jedem gegenüber erst mal misstrauisch. Hier im Sinn ein dümmlichen Toleranz einfach "offen" zu sein, ist bloss eines: bescheuert und grob fahrlässig in Bezug auf das eigene Leben und Überleben. Und es provoziert im Extremfall das genau Gegenteil dessen, was beabsichtigt ist: eine Verachtung, die möglicherweise teuer bezahlt werden muss.
Ungefähr ein Jahr später heuerte ich in einem Restaurant in Bern an. Im Vergleich zu Frankreichs Süden gab es damals und dort nur wenige Araber. Trotzdem kam es bereits in der ersten Woche zu einer Prügelei. Ich hatte Nachmittagsdienst. Restaurant und Bar waren nur spärlich besucht, den Grossteil der Gäste kannte ich. Ausser mir war vom Personal nur die "Kalte Küche" vor Ort - ein Algerier, der neben seiner Arbeit eine Ausbildung zum Krankenpfleger machte, mit einer Schweizerin verheiratet und Vater zweier Kinder war.
Sie waren zu dritt. Ich hatte sie zuvor noch nie gesehen. Sie setzten sich mit Blick zur Tür an den Hinterseite der Bar hin. Bereits als ich ihre Bestellung aufnehmen wollte, war die Sache "ungut". Anstatt zu sagen, was sie wollten, diskutierten sie auf arabisch in einer Art, die darauf schliessen liess, dass es dabei um eine völlig respektlose Beurteilung meiner Erscheinung ging. Sie lachten. Soweit so banal. Ich tat also, was ich immer tat bei solchen Gästen: wandte mich ab, um mich erst wieder um sie zu kümmern, wenn sie ihren Spass gehabt hätten. In der Regel geht solches problemlos und ruckzuck. Nicht so hier - es wurde sofort als Beleidigung und Mangel an Ehrerbietung aufgefasst.
Was dann folgte, war das, was man als Eskalation bezeichnen kann. Sie bestellten Kaffee und Mineralwasser, während sie in gebrochenem Dialekt und in Richtung der anderen Gäste alles aufzählten, was sie an uns Schweizern hassten und verachteten. Einer zerdrückte mit blosser Hand sein Glas und liess die Scherben auf meiner Seite der Bar auf die Ablage rieseln. Das war der Moment, in dem Ahmed, der durch den "Pass" alles beobachtet hatte, aus der Küche kam, sich zwei der Gäste schnappte und die drei rauswarf. Als wir draussen vor der Tür standen und zusahen, wie sie in unsere Richtung drohend und wütend von dannen gingen, riet er mir, von jetzt an nicht mehr allein loszuziehen. "Und du?", fragte ich. Er beantwortete die Frage nicht, sondern sagte etwas, was mir bis heute geblieben ist:
"Zuviele von uns sind aus den falschen Gründen hier."
Mit diesen Worten ist alles gesagt. Damals und auch heute, gut zwanzig Jahre später. Befohlene Toleranz oder dümmliche Toleranz-Kredite sind vor diesem Hintergrund die Schrottpapiere einer wehr- und lebensunwilligen Gesellschaft. Der Befehl des „Kollektivpatrirachen“ Staat, Fremdem, Anderem und Neuem millionenfach blind zu vertrauen, es ungeprüft willkommen zu heissen, es zu achten und zu respektieren noch bevor man weiss, wer der Mensch ist, den man vor sich hat, ist die Aufforderung zu vorauseilender Selbstaufgabe. Es ist der Befehl, unreflektiert ins Dunkle, schlimmstenfall in den Tod zu stolpern. Solches "Integration" und "Inklusion" zu nennen und es zum moralischen Imperativ eines weichlichen und weibischen "Fortschritts" zu erheben, ist ein Hohn.
Wer uns das Recht auf persönliches Kennenlernen und Wissen abspricht, wer unsere Pflicht, Unbekanntes zu prüfen, für nichtig erklärt, spricht uns nicht nur die Verantwortung für eigene Entscheidungen ab, sondern die Fähigkeit abzuwägen, was für uns gut ist und was nicht.
Vertrauen und Toleranz setzen Wissen voraus. Ohne dies ist alle Toleranz bloss ein hohles Pseudo-Konzept, die utopische Kopfgeburt eines moralisch und menschlich abgehobenen Gestalter-Kollektivs, das vor allem eines sehr deutlich zeigt: Die umfassende Verachtung dieser Leute für den gesunden Menschenverstand, den Gemeinsinn und die Vernunft seiner Bürger.