Am Leben sein reicht nicht

Vor 11 Jahren verbrachte ich viel Zeit am Krankenbett meines Onkels. Er bat mich von Zeit zu Zeit, ihm aus einem Buch von Dr. Bernie Siegel mit dem Titel „Prognose Hoffnung“ vorzulesen. Der ehemalige Chirurg und Onkologe vertrat darin die Überzeugung, eine Chemotherapie habe nur dann die Chance, maximal zu wirken, wenn der Patient „Ordnung“ in seinem Leben habe und er soweit möglich frei sei von Sorgen und Belastendem. Oft „schickte“ er einen nach Hause mit dem Job, Dinge in seinem Leben zu klären, die bremsten. Egal, ob in der Beziehung zum Partner, zur Familie, zu Freunden, im Job, zum Geld oder zu sich selbst. Ich kann diese Theorie mitnichten beurteilen. Aber darum geht’s auch nicht. Was beeindruckt, ist das folgende: Um neue Patienten über dieses Vorgehen zu informieren, versammelte Siegel jeweils eine Gruppe von acht bis zehn Leuten. Und er stellte ihnen als erstes eine Frage: „Wer von euch will leben?“ In jeder Gruppe, so berichtet er, gab es einen, dessen Hand wie etwas, das gespannt gewesen war, hochschnellte über den Kopf. Manchmal war es der ganze Mensch, der auf die Beine kam und bloss dies eine rief: „Ich!“ Einer aus zehn.

Andere Situation. Viele haben es schon erlebt. Im Rahmen einer Bekanntschaft bricht ohne Vorwarnung und ohne, dass man es im geringsten hätte kommen sehen, ein emotionaler Feuersturm um einen her los, dessen Grund, Verstärker und einzige Nahrung scheinbar man selber ist. Von Egoismus über Kälte, Interesselosigkeit, Ignoranz und Unverfügbarkeit wird alles ins Feld geführt und kann auch mal in der Bemerkung gipfeln, das Leben könnte so verdammt schön sein, wenn es solche Typen wie man selber einer ist, nicht gäbe. Nachdem man sich vom ersten Schrecken erholt hat – denn für einen selber war ja zuvor alles in Ordnung – stellt man sich natürlich den Vor- und Anwürfen und sich und sein Verhalten in Frage. Und es ist Erleichterung und Beklemmung zugleich, wenn man zum Schluss kommt: Es ist nicht mein Problem. Es ist deshalb nicht das eigene Problem, weil man selber von Anfang an klar kommuniziert hatte, was man im Rahmen dieser Bekanntschaft zu liefern bereit sei und auch liefern könne, während der andere – das zeigt der Feuersturm – nur vorgeblich damit einverstanden gewesen sein konnte und sich, diesen Schluss muss man ziehen, „gegen seinen Willen“ in etwas gefügt hatte, das er im Grunde so nicht wollte. Kurz: Er hat nie für sich selbst  oder das Gegenüber definiert, was er will und was nicht. Vielleicht hat er gehofft, vielleicht nicht mal das.

Weiter auseinander können zwei Beispiele kaum sein. Hier eine Art beziehungsmässiges Luxusproblem, dort eine Frage des Überlebens. Und doch haben sie eines gemeinsam. Beide fordern sie vom Menschen den Schritt vom vagen – manchmal sogar uneingestandenen – Wünschen zum Willen. Vom gefühlsgeleiteten Fordern zum Selbter-Tun. Oder anders gesagt: Einer, der sagt: „Ich möchte Klavierspielen können“ wird es nie lernen im Gegensatz zu dem, der sagt: „Ich will Klavierspielen können“.

Die Bekundung eines Willen, die Aussage „Ich will“ ist eine Absichtserklärung, mehr noch, eine Verpflichtung. Meist sich selbst gegenüber. Sie fordert von dem, der sie eingeht, ein Handeln, Verantwortung für die Folgen dieses Handelns, Unsicherheit, Risiko, Angst aber auch die Möglichkeit des Durchbrechens, des Überwindens, des Erfolgs.

Die Beantwortung von Siegels Frage nach dem eigenen Leben-Wollen ganz an den Anfang zu stellen, macht in meinen Augen Sinn. Kommt dabei ein Ja-Aber heraus, muss einer über die Bücher gehen und für sich entscheiden, wie er leben will. Nicht, wie er leben möchte und was er sein möchte. Wollen ist das Entscheidende. Wer im „Möchten“ verharrt, sucht in Wahrheit einen Schuldigen für die eigene Antriebs- und Verantwortungslosigkeit. Und sei es der Krebs.

Hart? Natürlich. Es kommt vor, dass Menschen einen hassen und verlassen, wenn man ihnen die Nase in die Möglichkeiten und Verantwortlichkeiten eines jeden einzelnen drückt. Es macht nicht immer Spass, sich diese Fragen zu stellen. Die Antworten sind nicht zwingend lustig und unterhaltsam: Es kann sein, dass man bei maximaler Schonungslosigkeit in Bezug auf die eigene Person feststellt, dass man in Wahrheit das eigene nicht näher definierte „Glück“ – das in manchen Fällen auch bloss „Keine Langeweile“ sein kann – stets von aussen erwartet hat als etwas einem Zustehendes, das das Leben selbst und wenn nicht jenes, so die Politik oder der Staat zu liefern hätten.

Fakt ist: Die Politik, „Linke“, „Rechte“, Programme, Ideologien, Kollektiv-Konzepte, virtuelle Lynchmobs, Empörungs-Orgasmen, Filterblasen-Harmonie, Wehleidigkeits-Chöre und Enttäuschungs-Orgien können nicht darüber hinwegtäuschen, dass echte  tiefste Zufriedenheit und Leben in all seinen Farben jeden einzelnen persönlich fordert. Allein. In  der Stille. Wie will ich leben? Was für ein Mensch will ich sein? Und was muss ich tun, um das zu erreichen?

Das ist der ganze Zauber. Er nennt sich Freiheit. Ist einer mal zu dieser Einsicht gelangt, dann fängt die Arbeit an. Lernen, arbeiten, kämpfen, leiden, durchbeissen, verzichten, dabeibleiben, ausharren. Das oder Getriebenheit, Ohnmacht, Schmarotzerei, Unzufriedenheit, arrogantes Opfertum, Selbstmitleid, Neid, Missgunst, Dauer-Groll, Sorgenzerfressenheit und am Ende dauerndes und totales Ausgeliefertsein. Mithin die Unterwerfung unter jene Menschen oder Institutionen, die am besten lügen und auch einfach am lautesten. Oft ist es ein totalitärer Gesinnungsstaat.

Mein Onkel und ich schafften vom Siegel-Buch nur das erste Drittel. Im Vergleich dazu haben die meisten von uns noch die Chance auf Leben und damit die Chance auf persönliches Wollen, Entscheiden und Tun. Im Grossen und im Kleinen. Diese Chance abzugeben an andere oder sie zu ignorieren, ist nicht weniger, als nicht zu leben.

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Tourix

Tourix bewertete diesen Eintrag 17.11.2017 00:10:10

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