"Dabei gibt es für die Ukraine-Krise eine Lösung für die der Westen allerdings seine Denkweise grundlegend revidieren müsste. Die USA und ihre Verbündeten müssten ihren Plan einer Verwestlichung der Ukraine aufgeben und stattdessen darauf hinarbeiten, dass das Land zu einem neutralen Pufferstaat zwischen der NATO und Russland wird, ähnlich wie Österreich im Kalten Krieg. Westliche Staatschefs müssten sich eingestehen, dass die Ukraine für Putin zu wichtig ist, als dass sie dort ein anti-russisches System unterstützen dürften. Das heißt nicht, dass die künftige ukrainische Regierung für Russland oder gegen die NATO sein müsste. Im Gegenteil sollte eine souveräne Ukraine weder im russischen noch im westlichen Lager angesiedelt sein. Die Geschichte zeigt, dass Länder, die ihre strategischen Kerninteressen wahren wollen, auch schwerste Strafmaßnahmen hinnehmen. Warum sollte Russland eine Ausnahme von dieser Regel sein? Um das zu erreichen, müssten die USA und ihre Verbündeten eine NATO-Erweiterung sowohl nach Georgien als auch in die Ukraine offiziell ausschließen. Der Westen sollte zudem an der Ausarbeitung eines gemeinsam von der EU, dem Internationalen Währungsfonds, Russland und den Vereinigten Staaten finanzierten wirtschaftlichen Rettungsplans für die Ukraine mitwirken ein Vorschlag, den Moskau sicherlich begrüßen würde, da ihm an einer prosperierenden und stabilen Ukraine in der Westflanke gelegen sein muss. Zudem sollte der Westen seine Bemühungen zur Beeinflussung gesellschaftlicher Strukturen in der Ukraine deutlich zurückfahren. Eine weitere Orangene Revolution dürfte nicht aus dem Westen unterstützt werden. Dennoch sollten die politisch Verantwortlichen in den USA und Europa die Ukraine darin bestärken, die Rechte von Minderheiten zu wahren, insbesondere die Sprachenrechte russischer Muttersprachler. Man mag einwenden, dass ein Umschwenken in der Politik gegenüber der Ukraine zu diesem späten Zeitpunkt die Glaubwürdigkeit der USA in aller Welt schwer beschädigen würde. Es ist auch zu hören, dass die Ukraine das Recht hat, selbst zu entscheiden, mit wem sie sich assoziieren möchte, und dass die Russen kein Recht haben, Kiew an einer Annäherung an den Westen zu hindern. Eine solche Sicht ihrer außenpolitischen Optionen ist für die Ukraine gefährlich. Die traurige Wahrheit ist, dass im Kontext der Großmachtpolitik Macht häufig vor Recht geht. Abstrakte Rechte wie das auf Selbstbestimmung sind weitgehend bedeutungslos, wenn mächtige Staaten mit schwächeren aneinander geraten. Hatte Kuba das Recht, im Kalten Krieg eine Militärallianz mit der Sowjetunion einzugehen? Die USA waren mit Sicherheit anderer Meinung, und ähnlich bewerten die Russen die Hinwendung der Ukraine zum Westen. Es liegt im Interesse der Ukraine, diesen Tatsachen ins Auge zu sehen und im Umgang mit dem mächtigeren Nachbarn Vorsicht walten zu lassen. Selbst wenn man diese Beurteilung nicht teilt und die Meinung vertritt, die Ukraine habe ein Recht darauf, eine Aufnahme in die EU und die NATO anzustreben, haben die USA und ihre europäischen Verbündeten doch auch das Recht, dieses Ansinnen auszuschlagen. Der Westen muss der Ukraine durchaus nicht entgegenkommen, wenn sie sich auf eine fehlgeleitete Außenpolitik versteift, zumal, wenn ihre Verteidigung nicht von grundlegendem Interesse ist. Den Träumen einiger Ukrainer nachzugeben, ist es nicht wert, die Feindseligkeiten und Streitigkeiten, die daraus besonders für das ukrainische Volk erwachsen, in Kauf zu nehmen."
Von John J. Mearsheimer | 09.01.2014
Warum der Westen an der Ukraine-Krise schuld ist
Es ist, als hätte jemand diese Vorschläge zur Lösung des Konflikts hergenommen, um durch exakt gegenteiliges Handeln die Eskalation zu provozieren.
Bei mir war es hauptsächlich die eskalierende ukrainisch/westliche Rethorik im Vorfeld des russischen Einmarsches, welche eine skeptisch-zurückhaltende Einstellung zu diesem Krieg bewirkten.
Ich war etwas verblüfft, als ich heute obiges las, nachdem gleich zwei Blogs einen Gastbeitrag in der NZZ zum Thema hatten.
Auf Nukleardrohungen mit Defaitismus reagieren? Wider den Vulgär-Realismus in der Ukraine-Debatte
Ein Eingehen auf die Atomwaffen-Drohungen Moskaus würde das Risiko einer nuklearen Eskalation keineswegs verringern. Es handelt sich hier um antiquierte Einschätzungen der Konfliktforschung.
Gerald Schneider 125 Kommentare
21.10.2022, 05.30 Uhr
Er ist erfreulich kurz, und seine zentralen Thesen schnell erledigt:
Schneider
"Der 24. Februar 2022 hat zwar die Vorhersage Mearsheimers widerlegt, dass Putin den «Pufferstaat» Ukraine nicht überfallen werde, weil dies die Existenz Russlands gefährde."
Mearsheimer
"Die Ukraine ist für Russland ein Pufferstaat mit enormer strategischer Bedeutung. Kein russischer Staatschef würde es hinnehmen, dass eine Militärallianz, die noch bis vor kurzem Moskaus Erzfeind war, in die Ukraine vorstößt. Auch würde kein russischer Staatschef untätig dabei zusehen, wie sich der Westen für die Einsetzung einer Regierung stark macht, die die Einbindung der Ukraine in den Westen betreibt. Washington mag von der Position Moskaus nicht angetan sein, müsste aber die Logik dahinter begreifen. Das ist Geopolitik für Anfänger: Auf eine mögliche Bedrohung vor ihrer Haustür reagiert jede Großmacht empfindlich."
War die Selenskij-Ukraine noch «Pufferstaat», nachdem die ukrainische Oligarchen-Opposition geknebelt wurde?
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Schneider
"Nothypothese, dass ein an den Rand gedrängtes Russland notfalls auch Atomwaffen einsetzen werde, um die Kriegsziele doch noch durchsetzen zu können"?
Was sind die ukrainischen/westlichen Kriegsziele?
Die Äußerungen ukrainischer/westlicher Politiker laufen auf einen militärischen Sieg über Russland hinaus, was jedoch nur so möglich ist, wie es mal mit NS-Deutschland geschah.
In solch einem Szenario halte ich eine Atomeskalation für sehr wahrscheinlich.
Und wer meint, daß diese Deutung übertrieben wäre, sollte sich vor Augen führen, daß die eigene Deutung nicht minder übertrieben ist:
Schneider
"da Präsident Putin in einer nächsten Konfrontation in Ermangelung konventioneller militärischer Mittel noch einmal auf die nukleare Option setzen könnte – um noch obszönere Forderungen als jene an die Ukraine durchzusetzen, auf die eigene Souveränität zu verzichten."
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Und schließlich:
Schneider
"Wie bei den Diskussionen um das Coronavirus sollte sich auch bei den medialen Auseinandersetzungen zum russischen Angriffskrieg langsam die Einsicht durchsetzen, dass Experten eigentlich nur jene Forschenden sind, die zu einem bestimmten Thema international begutachtete Publikationen vorzuweisen haben – und nicht nur ein Twitter-Konto, eine telegene Erscheinung oder provokative Meinungen."
Die NZZ hat ihre journalistische Pflicht erfüllt, indem sie diese Seite der wissenschaftlichen Debatte um diesen Konflikt veröffentlichte.
Ein Verstoß wäre es nur, wenn die NZZ jegliche Gegenmeinung dazu zensieren würde, wie es Schneider im Prinzip oben fordert.
Unser Problem liegt weniger bei den Veröffentlichern, sondern beim wissenschaftlichen Zeitgeist, der jegliche Gegenmeinung als "false balance" unterdrücken will.
An der "false balance"-Theorie mag zwar was dran sein, aber in der Realität wirkt sie sich als wissenschaftliche Zensur/Scheuklappen aus.
Vermutlich ist es die logische Weiterentwicklung des "peer review"-Systems, und läuft jetzt darauf hinaus, womit meine Mutter in der Kindheit warnte:
"Wenn alle [Wissenschaftler] in den Brunnen springen, springst Du hinterher?"
Hier gibt es noch eine interessante Einschätung dazu:
https://twitter.com/i/status/1486862509420154883
Daher bleibt es wohl an No-Names, wie mir, welche keine monetären, oder Reputationsverluste zu befürchten haben, die Meinungen zu veröffentlichen, welche der sogenannte "wissenschaftliche Konsens" am liebsten unterdrücken würde.
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Was nun die Atomeskalation angeht, so sieht es für mich so aus, als ob beide Seiten beim Gegenüber das Übelste vermuten, oder solche Vermutungen gezielt als Propaganda einsetzen.
Ich weigere mich, bei diesen Spielchen mitzumachen.
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p.S.:
Ich sehe mich auf Seiten der Zivilbevölkerung, ob nun hier, oder in der Ukraine, welche die Leidtragenden bei diesem Kampf der Systeme (Zivilgesellschaft?) sind, und finde Mearsheimer´s Analyse zutreffend.
Hier noch zwei Auszüge:
"Angesichts der Anstrengungen des Westens, gesellschaftliche Strukturen in der Ukraine zu beeinflussen, befürchtet die russische Staatsführung, ihr Land könnte als Nächstes dran sein. Und solche Befürchtungen sind durchaus nicht unbegründet. So schrieb der Präsident der US-Stiftung National Endowment for Democracy Carl Gershman im September 2013 in der Washington Post: Die Annäherung der Ukraine an Europa wird den Niedergang der von Putin repräsentierten Ideologie des russischen Imperialismus beschleunigen. Und er fügte hinzu: Auch die Russen stehen vor einer Entscheidung, und Putin findet sich womöglich auf der Verliererstraße wieder, nicht nur im nahen Ausland, sondern auch in Russland selbst.
Die Herbeiführung einer Krise Der Dreierpack politischer Maßnahmen des Westens NATO-Osterweiterung, EU- Osterweiterung und Förderung der Demokratie war die Nahrung für ein Feuer, das nur noch entzündet werden musste. Der Funke kam im November 2013, als Janukowitsch einem wichtigen Wirtschaftsabkommen, das er mit der EU verhandelt hatte, eine Absage erteilte und stattdessen ein Gegenangebot der Russen über 15 Milliarden Dollar annahm. Dieser Entscheidung folgten regierungsfeindliche Demonstrationen, in deren Verlauf bis Mitte Februar etwa hundert Demonstranten zu Tode kamen. Westliche Emissäre eilten nach Kiew, um die Krise zu lösen. Am 21. Februar unterzeichneten Regierung und Opposition eine Vereinbarung, nach der Janukowitsch bis zur Abhaltung von Neuwahlen im Amt bleiben sollte. Doch dieses Abkommen hatte keinen Bestand, und Janukowitsch floh schon tags darauf nach Russland. Die neue Regierung in Kiew war pro-westlich und anti-russisch bis ins Mark; vier ranghohe Mitglieder können durchaus legitim als Neofaschisten bezeichnet werden. Die neue Regierung in Kiew war pro-westlich und anti-russisch bis ins Mark; vier ranghohe Mitglieder können durchaus legitim als Neofaschisten bezeichnet werden. Die Rolle der USA ist zwar noch nicht in ihrer ganzen Tragweite bekannt, doch Washington hat den Staatsstreich offenkundig unterstützt. Victoria Nuland aus dem US- Außenministerium und der republikanische Senator John McCain nahmen an den regierungsfeindlichen Demonstrationen teil, und der US-Botschafter in der Ukraine Geoffrey Pyatt erklärte nach Janukowitschs Sturz, der Tag werde in die Geschichtsbücher eingehen. Wie einem öffentlich gemachten Telefonmitschnitt zu entnehmen ist, hatte Nuland einen Regimewechsel befürwortet und sich für den ukrainischen Politiker Arsenij Jazenjuk als Premierminister der neuen Regierung ausgesprochen, der es dann auch wurde. Kein Wunder, dass Russen aller politischen Couleurs glauben, der Westen habe bei Janukowitschs Amtsenthebung seine Finger im Spiel gehabt. Für Putin war die Zeit gekommen, der Ukraine und dem Westen entgegenzutreten. Kurz nach dem 22. Februar befahl er den russischen Streitkräften, der Ukraine die Krim abzunehmen, die er bald darauf Russland einverleibte. Als Nächstes setzte Putin die neue Regierung in Kiew massiv unter Druck, sich nicht im Schulterschluss mit dem Westen gegen Moskau zu stellen, und machte deutlich, dass er eher die Staatsstruktur der Ukraine zerstören würde, als tatenlos dabei zuzusehen, wie sie zu einem Bollwerk des Westens vor Russlands Haustür wurde. Zu diesem Zweck stellt er seither den russischen Separatisten in der Ostukraine Berater, Waffen und diplomatische Unterstützung zur Verfügung, damit sie das Land in einen Bürgerkrieg treiben. Er zog an der ukrainischen Grenze eine große Arme zusammen und drohte mit einer Invasion, sollte die Regierung in Kiew gegen die Rebellen vorgehen. Zusätzlich hob er den Preis für die russischen Erdgaslieferungen an die Ukraine stark an und forderte die Zahlung bereits erfolgter Exporte. Putin kämpft mit harten Bandagen. Diagnose russischer Politik Putins Verhalten ist nicht schwer zu verstehen. Die Ukraine ist für Russland ein Pufferstaat mit enormer strategischer Bedeutung. Kein russischer Staatschef würde es hinnehmen, dass eine Militärallianz, die noch bis vor kurzem Moskaus Erzfeind war, in die Ukraine vorstößt. Auch würde kein russischer Staatschef untätig dabei zusehen, wie sich der Westen für die Einsetzung einer Regierung stark macht, die die Einbindung der Ukraine in den Westen betreibt. Washington mag von der Position Moskaus nicht angetan sein, müsste aber die Logik dahinter begreifen. Das ist Geopolitik für Anfänger: Auf eine mögliche Bedrohung vor ihrer Haustür reagiert jede Großmacht empfindlich."
"Die Geschichte zeigt, dass Länder, die ihre strategischen Kerninteressen wahren wollen, auch schwerste Strafmaßnahmen hinnehmen. Warum sollte Russland eine Ausnahme von dieser Regel sein? Zudem halten die westlichen Staatschefs ja an der provokativen Politik fest, die der Krise vorausging. Im April erklärte US-Vizepräsident Joseph Biden bei einem Treffen mit ukrainischen Abgeordneten: Dies ist die zweite Gelegenheit, das von der Orangenen Revolution gegebene Versprechen einzulösen. CIA-Direktor John Brennan machte die Sache nicht eben besser, als er im selben Monat Kiew einen Besuch abstattete, der nach Auskunft des Weißen Hauses eine Verbesserung der sicherheitspolitischen Zusammenarbeit mit der ukrainischen Regierung zum Ziel hatte. Die EU treibt derweil ihr Projekt der Östlichen Partnerschaft voran. Im März beschrieb der Präsident der Europäischen Kommission José Manuel Barroso die Haltung der EU gegenüber der Ukraine mit den Worten: Wir stehen in der Schuld, haben eine Pflicht zur Solidarität mit diesem Land, und wir werden uns bemühen, es möglichst nah bei uns zu haben. Und tatsächlich unterzeichneten die EU und die Ukraine am 27. Juni das Wirtschaftsabkommen, das Janukowitsch sieben Monate zuvor so folgenreich abgelehnt hatte. Ebenfalls im Juni wurde auf einem Treffen der NATO-Außenminister vereinbart, dass die Allianz Neumitgliedern offen stehen werde; allerdings sahen die Außenminister davon ab, die Ukraine namentlich zu erwähnen. Bei der NATO-Erweiterung hat kein Drittland ein Vetorecht, erklärte NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen. Die Außenminister einigten sich außerdem auf diverse Maßnahmen zur Stärkung des ukrainischen Militärs, etwa in den Bereichen Führung, Logistik und Cyberabwehr. Diese Entscheidungen haben die russische Führung natürlich abgeschreckt. Die Reaktion des Westens auf die Krise macht die Lage nur noch schlimmer."