Wer schon mal in einem Projekt mitgearbeitet hat, weiß, dass es am Ende oder nach dem Abschluss wichtiger Projektteile und –phasen oft eine Besprechung unter dem Titel „Lessons Learned“ gibt. Da ich nicht sicher bin, ob ich mich dann, wenn wir den nächsten Bundespräsidenten haben, noch an das erinnere, was mir diesbezüglich durch den Kopf geht, hier eine nur grob gruppierte Aufstellung der Dinge, die ich als Staatsbürger in den letzten Tagen, Wochen und Monaten gelernt habe.
1. „Es ist ein Skandal mit dem Bodenpersonal“ [EAV, „s’Muaterl"]: Massives Schämen ist angesagt. Der Minister des im Zusammenhang mit Wahlen wichtigsten Ressorts verhält und benimmt sich bei Pressekonferenzen, in denen es auch um die Reputation meines Heimatlandes geht, wie ein von schlüpfrigen Witzchen lebender autodidaktischer Alleinunterhalter im vierten Bildungsweg während einer Heizdecken-Werbefahrt.
2. Die Argumentation der Notwendigkeit eines stolzen und starken Berufsbeamtentums wegen der daraus resultierenden höheren Qualität der Verwaltung hat, und das betrübt mich angesichts der Tausenden großartige Arbeit leistenden Beamten sehr, dank des Innenministeriums Risse bekommen.
3. Ministerialbeamte und Sektionschefs behandeln Erkenntnisse des Verfassungsgerichtshofs wie eine Hämorrhoiden-Salbe: Man muss sie zwar anwenden, weil es sonst im Laufe der Zeit doch zu sehr juckt, man spricht aber nicht darüber.
4. Das BMI kann nichts für Fehler in der Produktion von Wahlkarten – aber alles dafür, auf diesen Fall (und, unter Beachtung von Murphys Law, ähnliche und andere) nicht vorbereitet zu sein und keine Schubladenpläne und Plan-B-Strategien ausgearbeitet zu haben. Und wenn erste Verdachtsmomente auftauchen, es könnte wieder mal was schiefgegangen sein, wird abgewartet: Nur net hudeln; die Leute haben sich an verschobene/zusätzliche Wahlgänge eh schon gewöhnt.
5. Minister sein heißt eine Führungsaufgabe zu haben und damit für die Arbeit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verantwortlich gemacht zu werden. Daher: Herr Sobotka, Ihr Rücktritt bitte! Wer meint, das sei überzogen, weil – und das ist korrekt – der Herr Minister die Kuverts nicht selbst verhunzt hat, irrt. Gerade die Partei Sobotkas nennt immer die Privatwirtschaft als Maßstab für staatliche Verwaltung. Nun denn, Sobotka, muss seinem Schöpfer (damit ist der mit Sitz in St. Pölten gemeint) auf Knien dafür danken, dass die Haftungs- und Strafbestimmungen des Aktiengesetzes, des GmbH-Gesetzes und des UGB für ihn nicht gelten. Darüber hinaus hält sich die ÖVP sinngemäß an das Kriterium eines ehemaligen Generalsekretärs: Solange Sobotka nicht nachgewiesen wird, eigenhändig sechs Kuverts falsch verklebt zu haben…
6. Kein Spitzenbeamter hat offenbar Alarm geschlagen, dass bei der hohen Zahl von beantragten Wahlkarten und der steigenden Tendenz irgendwann der Punkt kommen wird, an dem eine gesetzeskonforme Abwicklung im Rahmen der vorgesehenen Prozesse und Fristen offenbar einfach nicht mehr möglich ist und rechtzeitig aufgezeigt bzw. der Politik Maßnahmen empfohlen. Kein Legist hat bei der Formulierung der Gesetze an Eventualitäten gedacht.
7. Sie kennen als Bürgerin den Punkt 3 der Durchführungsverordnung zum § 422 Abs 2. lit g des Grashalmkrümmungsgesetzes (Landesgesetz, zu vollziehen von den Bezirkshauptmannschaften) nicht?
Pech gehabt! Machen Sie sich auf etwas gefasst! Da wir der Paragraph geritten bis die Schuhsohle unter dem Sattel ein zartes Beef Tatar ist. Ähnliches gilt natürlich nicht für hohe Beamte. Oder hat jemand von einem einzigen Disziplinarverfahren ob der Zustände gehört, die bei den Aussagen vor dem VfGH anlässlich des Einspruchs zum 2. Wahlgang zu Tage getreten sind?
So kann zum Beispiel ein Bezirkshauptmann auf den Vorhalt eines Verfassungsrichters, dass laut Gesetz mehrere Bezirkswahl-Stellvertreter zu bestimmen seien (das war in dem Fall nicht erfolgt) „Ja, wir hätten mehrere nominieren sollen.“ antworten (Quelle: Live-Ticker des Standard) und ist immer noch in Amt und Würden.
8. Uns fehlt die demokratische Reife der Schweiz, in der bei vielen Wahlen mehr als 90 % der Stimmen via Briefwahl abgegeben werden. Oder wir müssen ganz einfach zugeben, dass wir das nicht schaffen. Irgendwer im BMI wird wohl Clubmitglied bei Ö1 sein und sich den hörenswerten Beitrag des Europa-Journals vom 22.7.2016 (Thema sinngemäß: Wie macht das eigentlich die Schweiz) besorgen können. Besser gut kopiert als schlecht erfunden.
9. Die Briefwahl, ursprünglich gedacht um den Menschen, die sonst verhindert wären, das Grundrecht der Wahlausübung zu ermöglichen ist zu einem zeitgeistigen Bequemlichkeitsinstrument und zur Lifestyle-Demonstration verkommen und muss dringend reformiert werden.
10. Tun wir bitte nicht so, als seien an Wahltagen 80 % der Österreicher im Ausland und der Rest plötzlich in den 24-Stunden-Dienst als Lokführer, Arzt, Krankenschwester usw. versetzt worden.
11. Der Briefwahl wohnt ein nicht zu beseitigender Mangel inne, der bei der hohen Zahl an solchen Stimmen schlagend werden kann: Es kann, eidesstattliche Erklärung und Unterschrift hin oder her, nicht garantiert werden, dass der/die Wahlberechtigte das Kreuzerl wirklich allein, unbeobachtet und vor allem selbst gemacht hat.
Daher sollte die Briefwahl auch wirklich auf Ausnahmefälle wie Auslandsaufenthalte fern des Konsulats etc. beschränkt werden.
12. Die Möglichkeit der Stimmabgabe ist durch zeitgemäße Instrumente sicher zu stellen: Die Möglichkeit, die Stimme egal wo in welchem Wahllokal in Österreich abzugeben, das Einführen von Vorwahltagen oder zusätzlichen Wahltagen mit Öffnungszeiten auch abends (wie bei Gemeinderatswahlen oft erfolgreich exerziert), fliegende Wahlkommissionen für Pflegeheime etc. (ja, ich weiß, dass diese Positionen auch von der FPÖ vertreten werden, aber ich weigere mich, wider besseren Wissens zu behaupten, 1 + 1 = 3 , nur weil Strache und Co. auch die Antwort zwei geben).
13. Zur Stärkung des Wahlgeheimnisses ist auch ein Verbot der Mitnahme von Smartphones und Fotoapparaten in die Wahlzelle zu erwägen. Natürlich soll das nicht zu Leibesvisitationen etc. führen, aber auch hier gilt die 80/20-Regel: Keine Taschen, keine Mäntel.
14. Generationen vor uns haben für ein allgemeines Wahlrecht gekämpft, haben dafür Nachteile und Verfolgung hingenommen und sehr oft auch das Leben gelassen. Da kann es doch bitte nicht zu viel verlangt sein, alle paar Jahre zwecks einer NR-Wahl oder Bundespräsidentenwahl zur Wahl zu gehen. Nennen wir es ruhig voll retro mit einem alten, reaktionären Begriff beim Namen: Bürgerpflicht. Man sollte meiner Meinung nach über eine Wahlpflicht bei bundesweiten Wahlen wieder nachdenken, samt Strafen, die spürbar sind, und dazu motivieren, sich das nächste Mal das Wahlschwänzen besser zu überlegen. Die Ausrede, das jeweilige Übel hätten dann eh die anderen gewählt und man sei eh nicht dabei gewesen, gilt dann nicht mehr.
15. In Österreich kann ein Urteil des Höchstgerichts zu einem peinlichen Hickhack der führenden Verfassungsrechtler des Landes werden. Ob da neben rein juristischen Überlegungen auch irgendwelche warum auch immer gekränkte Eitelkeiten eine Rolle spielen, sei einmal dahingestellt. Jedenfalls erweisen die honorigen Herren mit dem Paragrafenlängenvergleich (im Fall des B-VG genauer Artikellängenvergleich) dem Amt, dem Gericht und auch ihrer eigenen Reputation einen Bärendienst.
16. Eine Kontinuität in der Rechtsprechung ist zu begrüßen, ob wir da aber wirklich geradezu präzedenzfallmäßig in den 30er-Jahren des vorigen Jahrhunderts stehen bleiben müssen, steht auf einem anderen Blatt. Jedenfalls mutet es befremdlich an, dass Erkenntnisse zum Beispiel der Statistik (Möglichkeit einer Beeinflussung versus Wahrscheinlichkeit (man hat schon Pferde kotzen gesehen) einer Beeinflussung) nicht berücksichtigt werden bzw. sich das Gericht hier nicht qualifizierter Auskunftspersonen und Sachverständiger bedient. Ins Strafrecht übertragen hieße die Argumentation des VfGH, dass man auf Beweise mittels DNA künftig verzichten kann.
17. Dem Nationalrat seien ein paar intensive Arbeitswochen zwecks Schaffung eines lebbaren, modernen und praxistauglichen Wahlgesetzes anempfohlen.
18. Das Land wird wegen alledem nicht den Bach hinuntergehen. Die Sonne scheint weiterhin, die Grillen zirpen des Abends und wer das Glück hat, ein Lächeln seiner Kinder zu erhaschen, rückt die Bedeutung von Bundespräsidentenwahlen, Gummimischungen und auch diesem Blogeintrag wieder zurecht.