Der Klosterzögling – der autobiographische Roman des Heimopfers und Bastards Franz Josef Stangl

ÜBER das Schicksal von Heimkindern (die in Österreich in tausenden Fällen besser als Heimopfer bezeichnet werden sollten) wird öfter etwas geschrieben, VON einem Betroffenen selten bzw. geschieht das leider meist fern vom Blick der breiten Öffentlichkeit.

Dank Twitter habe ich Franz Josef Stangl kennen- und schätzen gelernt. Er, selbst mit dem Mühlstein einer Biographie als Heimkind beladen, engagiert sich nicht nur seit Jahren für die Opfer, so zum Beispiel in der Facebookgruppe „Gulagkinder Österreichs“ – er hat auch mehrere Bücher in der Form autobiographischer Romane geschrieben.

Eines davon habe ich jüngst gelesen und ihm meine Meinung dazu in seine Facebookgruppe „Der Bastard aus der Steiermark“ geschrieben. Da ich überzeugt bin, dass Stangls Geschichte nicht nur im engen Rahmen von Facebook-Gruppen bekannt sein sollte, folgt hier in Einverständnis mit Franz Stangl der Text meiner, ja, Rezension des hier erhältlichen Buches Franz Josef Stangl. Der Klosterzögling - Die Jugend des Bastards. Verlag Bibliothek der Provinz. ISBN 978-3-85252-381-1

Lieber Franz,

deinen „Klosterzögling“ habe ich zwar schon vor meinem Urlaub gelesen, aber eine Antwort auf deine Bemerkung, du seist gespannt, wie mir das Buch gefällt, hat ein wenig gedauert – dafür ist sie vielleicht ein wenig länger.

Vorweg, damit du gegebenenfalls problemlos (und auch ruhigen Gewissens) den Rest überblättern kannst: Du hast ein großartiges Buch geschrieben!

Und ich könnte jetzt noch ein wenig über den Roman philosophieren. Da ich aber annehme, dass so ca. 95 % des Inhalts autobiographisch sind und das Buch vielleicht aus rechtlichen Gründen offiziell der Kategorie „Roman“ zugeordnet ist, erweitere ich die Einschätzung: Du hast auch ein wertvolles Zeitdokument und eine detaillierte Sozialstudie verfasst!

Ich hoffe nicht nur, dass der Roman neu und wieder aufgelegt und vielleicht auch als eBook publiziert wird, ich fände es ausgesprochen notwendig und sinnvoll, dass der Inhalt deiner Autobiographie den einen Deutschlehrer oder die andere Geschichtelehrerin unter deinen Lesern dazu motiviert, deine Erlebnisse in den Unterricht einzubauen – Anknüpfungspunkte und passende Gegenstände/Unterrichtsinhalte dazu gebe es zur Genüge.

Der Klosterzögling behandelt mehrere Ebenen und ich fange mal mit derjenigen an, die gar nicht im Mittelpunkt des Buches steht: Dem Leben, vor allem auch von Kindern, auf dem Lande. Was die Begriffe, Gegenden, Mühen und den Tagesablauf betrifft, so konnte ich vielfach, wohl wegen der geographischen Nähe deiner Heimat, nein, wohl korrekter, deines langjährigen Wohnortes, zu meiner und einem zwar um ein Jahrzehnt verschobenen, aber doch ähnlichen Zeithintergrund, an die eigene, in meinem Fall aber Gott sei Dank sehr glückliche Kindheit als Sohn eines Arbeiters und Nebenerwerbslandwirts und eines Dienstmädchens und später Hausfrau und Nebenerwerbslandwirtin, denken: Die Arbeiten, die Ausstattung der Häuser, der Jahreslauf in der Landwirtschaft, das Reagieren auf Unwetter, den Umgang der Menschen mit der Welt und untereinander: All das, was du schreibst klingt für mich und zwar eben aus eigener Wahrnehmung bzw. aus Erzählungen anderer, vollkommen authentisch. Ganz abgesehen davon, dass ich dank deines Buches jetzt, mit 48, endlich weiß, das Kaspel der korrekte hochdeutsche Ausdruck für das ist, was sich in dem Koschplhäf’n hinter einem Vorhang im Vorraum auch lange in meinem Elternhaus befand.

Was diese Schilderungen des Landlebens betrifft, so steht dein Buch für mich in einer Reihe mit dem autobiographische Roman „Herbstmilch“ der deutschen Bäuerin Anna Wimschneider. Und genauso, wie deren Geschichte von einem einfühlsamen Regisseur und Produzenten verfilmt wurde, hoffe ich wirklich, dass deine Geschichte einmal auf die Leinwand kommt und in der Form auch Teil der österreichischen Filmgeschichte wird.

Wenn man deine Erlebnisse in diversen Heimen und Kinderseelenmühlen durch den roten Faden deines Buches und den diversen Einstreuungen und kleinen Episoden mitbekommt, so fällt einem so manches ein:

Die Abscheu über den alltäglichen Sadismus, den du über weite Strecken geradezu beiläufig schilderst, so als gehörte er zum Leben eines Heimkindes wie Hände waschen und Zähne putzen, damit verbunden die Ohnmacht von euch Kindern und damit das Versagen jedweder Menschlichkeit, gerade von denen, die diese oft auch im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit predigen aber eben überhaupt nicht leben.

Das Verwalten von jungen Menschen, das Inventarisieren, das Schubladisieren, so als gälten für Kinder, wie du es warst, nicht die Teile des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches, die Familie und Zusammenleben regeln, sondern als hätte man auf euch das Sachenrecht angewendet.

Und es fehlt auch jeder wirkliche Hass, es gibt einzelne Ausbrüche des Klosterzöglings, ja, die Phantasien, einer Peinigerin das Haus anzuzünden. Aber der große Hass, die wirkliche „Hate Speach“ über die Täterinnen und Täter, die fehlt – und das ist bewundernswert.

Was auch traurig stimmt ist, dass dein Buch auch ganz klar zeigt, an deinem Beispiel und an dem deiner Leidensgenossen, wieviel Lebensfreude und Potenzial da vernichtet wurde und ungenutzt geblieben ist. Wieviel Talent die Kinder gehabt hätten, das, hätte man sie wenn schon nicht gefördert, so zumindest gelassen. gehoben hätte werden können. Was für ein, um bei deinem Fall zu bleiben, glücklicher und hervorragender Bauer oder Landarbeiter du geworden wärst.

Offenbar war in den Jahrzehnten, in denen du und viele andere dem System ausgeliefert waren, ein Multiorganversagen (im Sinne von Organe der Verwaltung und Justiz) an der vertuschten und schöngeredeten Tagesordnung: Dass man jemanden, der gerade strafmündig geworden ist, ohne anwaltlichen Beistand, ohne genaue Erklärung der Sachlage und ohne richterliche Neutralität vor ein Strafgericht stellt und verurteilt ist ein weiteres gut geschildertes Puzzlesteinchen im Gesamtbild.

Man denkt sich beim Lesen deines Buches öfters „Das darf jetzt aber bitte nicht wahr sein!“ und man stellt sich auch öfter die Frage, was aus deiner geliebten Schwester geworden ist – diese Frage bleibt im Buch zwar unbeantwortet, jedoch fällt einem beim Lesen deiner Beiträge unter anderem in dieser Facebook-Gruppe dann doch ein kleiner Stein vom Herzen und zwar dergestalt, dass sie diese Zeiten auch überlebt hat, ihr immer noch in Kontakt seid und die gegenseitige Zuneigung durch die Widrigkeiten des Lebens nicht gelitten hat. Ich schreibe absichtlich nicht „Lebensumstände“, denn das hat etwas von höherer Gewalt, etwas Naturgesetzliches. Und Gewalt war es, das euch allen angetan wurde, aber eben keine höhere, sondern ganz und gar menschgewollte.

Leider decken sich auch deine Schilderungen des Umgangs von (Groß-)Bauern mit Mägden und Knechten und deren Kindern, die Ausgrenzung von „ledigen Kindern“ durch die Gesellschaft mit vielen anderen Berichten.

Natürlich könnte man beschwichtigend sagen, und das passiert auch in diesem Jahrhundert zu oft, damals waren die Zeiten anders, es war nach dem Krieg bzw. erst ein paar Jahrzehnte danach, es herrschten Mangel, es gab den breiten materiellen Wohlstand nicht. Das alles trifft zu und mag sein, aber das alles rechtfertigt nicht das Unrecht, das Leuten wie dir tausendfach angetan wurde, selbst in Zeiten materieller Knappheit hätte man euch als Kinder, als gleichberechtigte Menschen behandeln müssen, egal, ob man das mit dem gesunden Hausverstand, Humanität, der Bibel und den Gedanken der zu Zeiten vielfacher Ungerechtigkeit noch gar nicht existierenden Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte begründet.

Und trotzdem blitzen in deinem Buch immer wieder auch Episoden der Menschlichkeit auf, die sich, so lebendig wie du sie schilderst, auch tief in deine Seele gegraben haben müssen. Sei es eine dich mit Lebensmitteln versorgende Bäuerin während deiner Ausreiß-Zeiten, sei es ein nicht viel fragender Arzt durch das Schenken von Büchern, sei es ein gemeinsam mit dir in der alten Mühle Zuflucht gesucht habender Landarbeiter, der dir seine Lebensmittel abtritt, sei es die Nachbarsfamilie. Bei manchen, wie dem Lehrherren oder auch dem Polizisten, der dich bezüglich der Unterschlagung deines Lehrgeldes durch die Pflegemutter zumindest angehört hat und der Sache nachgegangen ist, ist das Bild ein wenig ambivalent, aber trotzdem. Diese Menschen zeigen dass man einem Bastard (du verwendest den Begriff im Verlauf des Buches immer mehr als eine Art Ehrentitel) auch mit Empathie begegnen kann – und lassen einen gleichzeitig staunen, mit welcher Selbstverständlichkeit damals wie es scheint das Aufsichalleingestelltsein und Herumstrawanzen eines Kindes gesehen wurde.

Nochmals zusammen fassend: Ohne Twitter und ohne Facebook hätte ich dich nie, zumindest virtuell, kennen gelernt. Damit wäre auch dein Buch an mir vorbeigegangen und ich hätte es wahrscheinlich nie gelesen – und das wäre sehr, sehr schade gewesen.

Hoffentlich kommt es zu einer Neuauflage dieses und der anderen Bücher, damit möglichst viele Menschen authentisch und aus erster Hand im Sinne von Danzers „Weihnachten“ erfahren, „wia des damols woa".

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Eveline I.

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