Das Primat des Humanismus in der Außenpolitik

Mitten im Sommerloch geht ein Raunen durch Presse und politische Landschaft: Der FDP-Chef Christian Lindner hatte sich erdreistet einen Gedankenanstoß an die Öffentlichkeit zu tragen, der von der Moral als oberste Maxime des heutigen politischen Zeitgeistes abweicht und stattdessen das Primat der politischen Nützlichkeit setzt. In Zeiten in denen gut gemeinter Humanismus legitim Völker-, Europa- und nationales Recht bricht, ist dieser Affront nicht unkommentiert geblieben. Lindner sei ein Putinversteher und würde nur allzu gerne in Genscher ´scher Manier mit Autokraten und Diktatoren kooperieren, was ihn quasi selbst zu einem solchen macht.

Die Erblast der Geschichte

Die Nationen Europas und allen voran Deutschland haben sich aufgrund der Geschehnisse im 20. Jahrhundert zu besonders, nach Maßstäben des internationalen Rechts, rechtschaffenen Staaten entwickelt. Bewusst hat man das Primat des Völkerrechts nicht nur der Dekoration wegen ins Schaufenster gestellt, man ist davon überzeugt, dass sich nur im Rahmen und mit Hilfe des Völkerrechts eine friedlichere und progressivere Zukunft für den Erdenball bewerkstelligen lässt. Die Ergebnisse eines gemeinsamen Dialogs, die in Konventionen, Regelstatuten und Verträgen mündeten, sah man im Gegensatz zu nationalen Egoismen als funktioneller an, betrachtet man dies alles unter der Annahme, das Glück aller, nicht nur der eigenen Leute, sei das Ziel. Und genau das wurde nach den Schrecken des Zweiten Weltkrieges Staatsräson. Jahrzehntelang hat sich Deutschland gar die Möglichkeit eines militärischen Eingreifens durch das Primat der Vereinten Nationen, der Knotenpunkt und bekannteste Ausdruck des Völkerrechts, nehmen lassen. Bis auf den Verteidigungskrieg innerhalb der Landes- und Bündnisgrenzen, wäre Deutschland nur unter UN-Mandat militärisch tätig geworden. Jenes Primat hat jedoch 1999 Risse bekommen, als Deutschland sich an einem Krieg gegen das ehemalige Jugoslawien beteiligt hat. Der Gerechtigkeit musste, wenn auch auf illegalem Wege, genüge getan werden. Wenn das internationale Recht ein Zuhilfekommen verweigert und somit gelebten Humanismus verhindert, und das auch vor der eigenen Haustür, dann muss eben genau diese Grenzen setzende, mit dem Anspruch auf allgemeine Gültigkeit

versehene, Rechtsordnung übergangen werden.

Der Humanismus und das Cherrypicking

Das internationale Recht kam unter die Räder der eigenen Moralansprüche. Gleiches geschah wenig später im Zuge der Euro-Rettung, in der man vereinbarte Prinzipien über Bord warf, mit dem Bailout Recht brach und in Form des Target-2-System jenes einfach umging. Anschließend brach die Flüchtlingskrise über Europa und Deutschland herein, die zu Rechtsbrüchen auf so vielen Ebenen führte, dass es den Rahmen dieses schlichten Beitrages sprengen würde, ginge man dezidiert auf alles ein. Das alles führt mich zu dem Schluss, dass wir es mit einer Entwicklung zu tun haben, die neue Phänomene wie altbekannte Elemente der internationalen Beziehungen vereint. Die Leitmaximen deutscher Außenpolitik sind ihrem Wesen nach gerade zu revolutionär. Der Grad an Solidarität und Altruismus, der in keinster Weise zu dem objektiven, sprich materiellen, Endnutzen steht, ist in der Geschichte wohl einmalig. Hier bedarf es weiterer Untersuchungen der vergleichenden Regierungslehre, durch Staatsrechtler und all jenen, deren Forschungsgegenstand die innere Verfasstheit eines Staates darstellt.

Die Art und Weise wie Deutschland versucht diese Ideologie durchzusetzen, ist aber keineswegs neu: Nutzt einem das Völkerrecht, so steht man hinter diesem, nutzt es einem nicht, wird es über Bord geworfen. Dem Wissenschaftler, der die internationalen Beziehungen untersucht, mag es herzlich egal sein, was der Inhalt der Ideologie ist, er betrachtet vielmehr die Mittel, die ein Staat benutzt, um die „Botschaft“ zu verbreiten. Im beschriebenen Fall kann man schlussfolgern: Alle Mittel sind recht. Damit unterscheidet sich Deutschland nicht im „Wie“ vom Lehrbuchbeispiel. Man mehrt seinen eigenen Nutzen, wenngleich man in genau diesem speziellen Fall der Illusion anhängt, man rette die Welt. Dabei geht es in erster Linie um das eigene Seelenheil. Das „Auf-Die-Schulter-Klopfen-Können“ ist die größte Wohltat, die ein Postmaterialist erfahren kann, entsprechend handeln hiesige Gesellschaft und deren gewählte Repräsentanten. Es handelt sich nichtsdestotrotz um einen Spezialfall, da bspw. der Neorealismus postuliert, dass jedwedes Staatshandeln eigennützig und auf das eigene Überleben ausgerichtet ist, sofern man, und so ist die Annahme, mit rational denkenden Akteuren zu tun hat. Eigennützig ist das beschriebene Verhalten, aber dem eigenen Überleben zuträglich? Das kann bezweifelt werden, schaut man sich das eingangs erwähnte Presseecho auf Linders Äußerungen an.

Im Namen der Gerechtigkeit und des Völkerrechts, hier war es nämlich ein anderer der es gebrochen hat und einer nach Demokratie strebenden Bevölkerung schadet, schaltet man auf Stur und verhindert dank der eigenen Übermoral einen Kompromiss. Was nicht sein darf, kann nicht sein. Nur verkalkulieren sich die Moralisten in diesem Fall. Linderns klassischer Ansatz der Realpolitik, der Bestehendes akzeptiert und entsprechend nutzenmaximierende und unter Umständen auf lange Sicht sogar der eigenen Moral zuträglichere Ergebnisse produziert, ist hier der Schlüssel. Tabus, die Meinungen ausschließen und Zusammenarbeit aufgrund eigener Moralvorstellungen verhindern, können zwar dem Selbstbild zuträglich sein, sind aber in der Außenpolitik töricht wie tödlich zugleich.

Zu erst erschienen auf - freisprech.

https://freisprech.org/2017/08/11/das-primat-des-humanismus-in-der-aussenpolitik/

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