Israel hat den Völkermord an den Armeniern nicht anerkannt. Besser gesagt, es kam erst gar nicht zur Abstimmung, weil der Parlamentspräsident der Knesset dies zuvor von der Tagesordnung strich. Weshalb? Weil er sich nicht sicher war, ob es überhaupt eine Mehrheit für eine Anerkennung geben würde, die Chancen stünden quasi fifty-fifty. Das lässt einen erstmal staunen und gleichzeitig erschrecken. Es ziemlich starker Tobak und man kann über diese Entscheidung streiten. Übrigens ist Yuli Edelstein, der israelische Parlamentspräsident, einer derjenigen, der sich dieses Jahr das zweite Mal für eine Anerkennung eingesetzt hatte.
Mich beschäftigt vielmehr, weshalb es allen ernstes jüdische Abgeordnete gibt, die die Frage umtreibt, ob die Massenvernichtungen an Armeniern, Assyrern und anderen Bevölkerungsgruppen, während des Ersten Weltkrieges, auf dem Gebiet der heutigen Republik Türkei, als Genozid einzustufen sind oder nicht. Mangelnde Bildung oder "Nicht-informiertheit" kann es ja wohl mehrheitlich kaum sein. Daher bekomme ich diesen ganzen Sachverhalt nicht in meinen Schädel. Der Straftatsbestand des Völkermordes wurde 1948 ins UN-Strafrecht eingeführt und der Begriffserfinder war nebenbei bemerkt selbst Jude und war sogar einst beim Tehlirian-Prozess selbst als Beobachter im Publikum.
Mir ist zwar klar, dass Israel seit Tagen wieder unter Beschuss durch die Hamas und andere Terrorgruppen war und deswegen mit anderen Problemen beschäftigt war und ist, aber dennoch ist oben erwähntes keine Nebensächlichkeit, sondern eine zutiefst grundsätzliche Angelegenheit, die man wenigstens hätte verschieben müssen, um im Diskurs im und außerhalb des Parlaments in die Tiefe zu gehen.
Ist es nun so, dass gewisse Kreise in Israel und in der Diaspora das „Monopol auf Völkermordopfer“ behalten möchten? Armenien und die Armenier in aller Welt haben nunmal kaum Einfluss auf irgendwelche Regierungen und könnten auf Ewig umher hoffen; solange die USA und Israel sich nicht bewegen, passiert überhaupt nichts. In Deutschland übrigens auch nicht; da ist das Votum des Bundestages vor kurzem nur ein wichtiger aber unvollständiger Meilenstein gewesen. Oder ist es die Feigheit vieler israelischer Abgeordneter vor dem Osmanen ansich? Schwer vorzustellen, weil Israel als Staat weder militärisch noch wirtschaftlich auf die Türkei und deren Staatsbürger angewiesen ist und auch das aus allen Poren öl-triefende Aserbaidschan würde sich fügen. Aus privaten Belangen ist mir bewusst, dass Juden, Armenier und andere Minderheiten seit Jahren wieder einen regelrechten Eiertanz aufführen müssen, aber ich glaube nicht, dass diese Menschen in irgendwelchen politischen Überlegungen irgendeine Rolle spielen dürften. Weitere Spekulationen will ich auch gar nicht mehr anstellen. Für mich persönlich steht nur fest, dass ich diese Entscheidung im Kern zwar aus (geo-)strategischer Sicht verstehen kann, weil eben Armenier keine Lobby haben und der Staat Armenien nur wie ein „Bananenstaat“ Russlands dasteht. Aber menschlich ist das einfach nur erbärmlich und enttäuschend für all jene wie mich, die Israel positiv gegenüber stehen und als Bollwerk gegen islamische Expansion und für freiheitliche Individualrechte im Orient betrachten.
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