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Arzach ist gefallen. Die Sichelmondfahne weht. Die Armenier müssen fliehen. Die jahrtausendelange (Siedlungs-)Geschichte der Armenier in eines ihrer angestammten Heimatgebiete - neben Anatolien - wurde beendet und die gesamte Region wird in Kürze vollständig armenierfrei sein. Die sogenannten Sicherheitsgarantien von Alleinherrscher Aliyev dürften nicht einmal einen minimalen Wert haben.
Am 19. September 2023 hat Aserbaidschan das zweite Mal seit 2019 Arzach / Bergkarabach (oder Artsakh, Lernajin Gharabagh, Nagorny Karabach) angegriffen. Keine 24 Stunden später erfolgte eine Waffenruhe, auf Betreiben der dort stationierten russischen „Friedenstruppen“. Leider waren eben jene Truppen bei jedem Angriff bzw. Scharmützel der letzten drei Jahre untätig blieben. Zum Glück sind aber diese russischen Soldaten dort und haben Zivilisten in Sicherheit gebracht und versorgt. Auch vor willkürlichen Zugriffen der aserbaidschanischen Truppen hätten die Russen sie beschützt. Nur - in Anführungszeichen - kam es diesemal vereinzelt zu Misshandlungen, im Gegensatz zum letzten Krieg wo es von Vergewaltigung bis Leichenschändung alles gab, inklusive Phosphorbomben.
Bereits Wochen zuvor hatte sich das aserbaidschanische Militär entlang der Grenzen zusammengezogen und Manöver durchgeführt. Seit Anfang des Jahres, bis zum Kriegsende, war der einzige Zugang (Latschin-Korridor) von Bergkarabach zum Mutterland Armenien durch Aserbaidschans Armee blockiert – niemand konnte mehr rein oder raus, ebenso durfte keine Medizin oder Lebensmittel transportiert werden. Viele Familien waren seit diesem Zeitpunkt voneinander getrennt. Wieder stand die Republik Armenien vor einer militärischen Auseinandersetzung, wie im September 2022, als die aserbaidschanische Armee mehrere Kilometer in die souveräne Republik Armenien einmarschierte und seitdem Territorium annektiert hat. Russland schaute hier wieder nur zu.
Dieser Krieg gegen die Armenier in Bergkarabach / Arzach - was verstörenderweise „Antiterror-Einsatz“ von aserbaidschanisch-türkischer Seite genannt wird - bedeutete nun defacto die Kapitulation der extrem dezimierten, ausgehungerten und waffentechnisch völlig unterlegenen Arzach-Armee. Die faktisch territoriale Abtretung erfolgte gezwungenermaßen im gleichen Moment und die endgültige Vertreibung erfolgt ebenso seit diesem Zeitpunkt.
Wie auch sonst hätten die zuständigen Behörden reagieren sollen, ohne ein echtes Militär, ohne Hilfe durch die Republik Armenien oder zumindest durch Hilfe durch die vertraglich gebundene (Nicht-)Schutzmacht Russland? Vielleicht ist das nun besser als Zehntausende Mordopfer in den nächsten Wochen. Vor drei Jahren hatte ich skizziert, wie eine Zukunft ohne Armenier in Arzach aussehen könnte und wurde mindestens schief dafür angeschaut; leider ist das nun Realität.
Wäre Armenien eingeschritten, dann hätte Aserbaidschan behaupten können, dass es unprovoziert angegriffen worden wäre. Denn Bergkarabach gehört völkerrechtlich angeblich zu Aserbaidschan. Allerdings ist das nicht wirklich richtig, denn unter Josef Stalin wurden diese Grenzen gezogen und nach dem Zerfall der Sowjetunion gab es in Arzach ein Referendum, dass zu Gunsten der armenischen Bevölkerung ausfiel. Was danach folgte ist Geschichte: Krieg, Sieg der Armenier und Ausrufung einer nicht legitimen armenischen Republik Arzach, mit Besetzung west-aserbaidschanischen Territoriums zum Schutze der armenischen Bevölkerung. Zudem gibt es drei aserbaidschanische Exklaven in Armenien (Quazax, Karki) und eine armenische in Aserbaidschan (Arzwaschen), wo es aber immer friedlich blieb.
(Siehe auch meine zahlreichen Texte zu Arzach bei fischundfleisch, z.B. in Verhandlungen sind Kriegswaffen und Vergebung bedeutet Leid, worin ich meine erneut bestätigten Zweifel am Verhalten des armenischen Ministerpräsidenten während des Krieges beschreibe, wo recht undurchsichtige Verhandlungen geführt wurden. Aber auch die Bedeutung der Zusammenarbeit mit Russland, worin ich meine ebenfalls leider bestätigte Sicht darstelle, die pessimistisch auf die Zukunft der Region war. Im Zangengriff von Islamisten, Faschisten und unwilligen Regierungen zeige ich unfassbare Naivität und Passivität der internationalen Gemeinschaft bei verschiedenen Themen auf, und verdeutliche hinsichtlich des Themenkomplexes Armenien, dass die armenische Gemeinschaft in der Diaspora nur sehr begrenzte Handlungsoptionen hat, um direkt in den Konflikt mit der Türkei und Aserbaidschan einzugreifen.)
An dieser Stelle zitiere ich mich mal selbst aus Die Neuordnung der Welt beginnt gerade erst:
>>Armenien konnte sich seine Freunde bisher nicht wirklich aussuchen. Es war und ist auf Russland angewiesen, finanziell, wirtschaftlich und militärisch. Es ist somit eine Zweck- und Zwangsfreundschaft. Sämtliche Energiekonzerne sind russische Firmen. Armenien ist von Russland abhängig und somit bis zu einem gewissen Grad nicht souverän.
Es unterhält zudem eine weitere Zwangsfreundschaft zum Iran, weil es eine knapp 40km gemeinsame Grenze hat [Meghri-Sektor], die Aserbaidschan und die Türkei unbedingt kappen wollen. Und genau darum geht es: Wenn man auf die Landkarte schaut, dann sieht man, dass Armeniens Teillandmasse „Zansegur“ das Land Aserbaidschan und die aserbaidschanische Autonome Republik Nachitschewan, was wiederum eine Grenze zur Türkei hat, voneinander trennt. Zudem gibt es offenbar Bodenschätze, die man sich natürlich auch einverleiben will. Georgiens Rolle soll an dieser Stelle nicht berücksichtigt werden, weil sie momentan auch untergeordnet ist.
Der Iran ist absurderweise der verlässlichste Partner Armeniens. Armenien ist christlich, der Iran ist bekanntlich schiitisch, so wie Aserbaidschan, wobei bei letzterem die Religion eine untergeordnete Rolle spielt. Dennoch hoffe ich inständig, dass der verachtenswerte Mullah-Staat so schnell wie möglich untergeht und eine relativ normale Regierung an die Macht kommt. [...]
Ich befürchte, dass Armenien in die Zange genommen wird, von der Türkei und Aserbaidschan sowie noch von der Türkei über Nachitschewan. Es kursieren Karten, die von aserischen Parlamentsabgeordneten auf Twitter gepostet werden, wo nur noch das Kernland Armeniens zu sehen ist und in türkischen Talkshows sprach man auch oft genug darüber. [...]
Man kann nur hoffen, dass Armenien seine Anti-Drohnen-Technologie aufgebaut bzw. ausgebaut hat, denn der letzte Krieg in Bergkarabach war ein Drohnenkrieg, dem kaum eine Armee standgehalten hätte. Putin, Macron, Biden oder sonstwer werden im Kriegsfall nicht kommen. Die Sichelmond-Truppen würden wohl erst nach verlustreichen Wochen des Häuserkampfes gestoppt werden können. Aber selbst dann wäre ein Großteil des Territoriums für alle Zeiten weg und möglicherweise würden die Türken bzw. Azeris in den besetzten Gebieten das vollenden, was sie 1915 begonnen hatten.
Russland kann oder will Armenien nicht mehr helfen.<<
Die Warnung Putins und seiner Leute, durch das Gewährenlassen Aserbaidschans (und seines Verbündeten Türkei) gegenüber Armeniens Regierung ist nun höchstwahrscheinlich angekommen: Die West-Orientierung war schon an der äußersten Grenze des Ertragbaren, aber die Militärübung mit amerikanischen Soldaten Anfang September 2023 dürfte wohl die Äderchen in der Birne zum Platzen gebracht haben. Falls der armenische Präsident Pashinyan weiter die Nähe zum Westen sucht, wird er wohl in Kürze abgesetzt werden.
Ein ziemlich wahrscheinlich kommender Krieg gegen Armenien seit 1920 durch die Türkei und 2022 durch Aserbaidschan selbst, wurde mehrmals in den Medien der Halbmond-Staaten angesprochen und durch Politiker und "Intellekuelle" mehrfach thematisiert. Fragen Sie Ihre türkischen Bekannten - falls Sie welche haben - nach genau dieser Thematik und man wird es Ihnen bestätigen. Höchstwahrscheinlich dauert es nicht mehr lange und es wird von türkischer und aserbaidschanischer Seite losgeschlagen. Sobald sich die türkischen Talkshows mit ihren Gästen hochschaukeln und sich die Panzertruppen an den Grenzen konzentrieren, Friedensonkel Putin sich mit Kumpel Tayyip trifft, dann wird es wohl losgehen. Die Welt- und Wertegemeinschaft wird „du du du“ sagen und man wird im absolut allerbesten Fall zu der Lösung kommen, dass die gesamte Region Syunik/Zangezur an Aserbaidschan fällt, inklusive der vermuteten Kupfervorkommen und anderer vermuteter Elemente. Aber um die geht es wohl tatsächlich nicht, sie wären nur eine nette Zugabe.
Wenn es dann zu Tod und Vertreibung kommen sollte, dann wird es also vielleicht wie schon einmal sein: Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg stellte unmissverständlich schon während des Ersten Weltkriegs klar: „Unser einziges Ziel ist, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig, ob darüber Armenier zu Grunde gehen oder nicht.“
Und nun, was wäre der Grund heute? Und vergessen Sie nicht, dass Aserbaidschan nicht losgelöst von der Türkei betrachtet werden kann: "Aserbaidschan ist für Deutschland und die Europäische Union ein Partner von wachsender Bedeutung“, so Bundeskanzler Olaf Scholz Mitte März 2023 in Berlin. Das Land habe „das Potenzial, einen wichtigen Beitrag zur Diversifizierung der deutschen und europäischen Energieversorgung zu leisten, wenn es um Öl und Gas geht“. Die Sozen waren übrigens seit der Weimarer Republik, aber eigentlich sonst auch, viel zu oft in der Geschichte also, auf der falschen Seite. Aber das ist ein anderes Thema.
Es bleibt wohl ein Geheimnis der Geschichte bzw. der Großmächte und der EU, weshalb man den beiden Sichelmond-Führern jeden Massenmord und jeden Massenmordversuch durchgehen lässt. Brückenfunktion, Rohstofflieferant etc. sind keine hinreichenden Gründe, oder sollten keine sein. Das Zeitalter der Barbarei ist gar nicht wieder zurückgekehrt, nein, es war nie vorüber. Betrachten Sie nur die letzten zehn Jahre, das genügt schon. Schauen Sie in welche Richtung diese Staaten und ihre Bevölkerungen gedreht wurden, wie sie mit ihrer eigenen Bevölkerung umgegangen sind, wie mit Regime-Kritikern und wie mit ihren Minderheiten und Nachbarn.
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