Die Armenier in Armenien, in den verlorenen Territorien Arzachs und weltweit erörtern die Gründe für die Schmach und nach den personifizierbaren Schuldigen für Niederlage des Krieges. Die Einen sehen glasklar Armeniens Premierminister Pashinyan als Schuldigen, weil dieser sofort und ohne Rücksprache mit dem Parlament oder gar dem Volk, den Türken das Land verschenkt habe. Zudem wird auch in Frage gestellt, ob er denn überhaupt die Befugnis hatte, für Arzach zu unterschreiben. Hier könnte man aber wiederum einhaken und nachfragen, wer es sonst hätte machen sollen, denn die Unterzeichner haben Arzach nicht als eigenständigen Staat anerkannt. Die Anderen sehen die alten Eliten vor Pashinyans "Samtenen Revolution" als Schuldige, weil sie tatsächlich wenig oder falsch in den Verteidigungshaushalt investiert hatten. Allerdings hatten diese Premierminister, Staatspräsidenten und Staatsminister, die mit den Oligarchen eng verzahnt sind, immer einen sehr guten Draht zu Moskau. Es ist ziemlich wahrscheinlich, dass die Westorientierung Pashinyans eine Ehrverletzung gen Putin bedeutet haben mag und er deswegen Bergkarabach an seinen neuen Verbündeten(?) Erdogan als erweitertes Geschenk überreichte. Es erinnert etwas daran, wie Stalin einst Bergkarabach an das sowjetische Aserbaidschan verschenkte, um Atatürk entgegen zu kommen.

Natürlich wird auch über die Parlamentsstürmung und Proteste in Jerewan gesprochen. Der Präsident Arzachs, Herr Harutyunyan wunderte sich, dass so viele Männer im wehrfähigen Alter plötzlich verfügbar waren um ein Parlament zu stürmen, aber nicht um Arzach zu verteidigen. Im gleichen Kontext fügte er hinzu, dass es ein hohes Maß an Befehlsverweigerung und sogar Deserteure in den Reihen der Freiwilligenverbände und selbst bei den Reservisten gegeben habe. Ich habe nur geschätzte Zahlen gelesen und auch wenn sie niedrig wirken, prozentual ist es schon ungewöhnlich hoch, vor allem gemessen an der Zahl der kämpfenden Truppenstärke.

Das erklärt jedenfalls das fanatische Ausharren und Durchhalten der Arzach-Soldaten, es ist schließlich ihr Heimatboden, den sie mit ihrem Blut tränken würden und taten. Das soll überhaupt nicht übertrieben klingen, aber es war halt so: Wären die Armenier nicht so unfassbar zäh im Kampf gewesen, wäre der Krieg wohl in zwei Tagen schon vorbei gewesen. An Militärakademien wird man diesen Krieg zwar noch bewerten müssen, aber ich denke, so falsch liege ich hierbei nicht.

Weshalb diese Freiwilligen, die ja keiner gezwungen hat zu kämpfen, weggegangen sind, kann ich mir nur damit erklären, dass sie die jeweils zu haltende Stellung als vollkommen aussichtslos erachteten. Ich kann weiter nur spekulieren, ob die jeweiligen Kommandanten über einen geordneten Rückzug debattiert hatten oder nicht. Es wäre ohnehin eine Niederlage gewesen, so oder so, auch wenn darüber philosophiert wird, ob sie mit mehr Manpower auch mehr Schaden beim Feind ausgerichtet hätten. Ich bin kein Fachmann für Militärtechnik des 21. Jahrhunderts, aber ich kenne mich ein kleines bisschen mit militärischen Dingen bis grob zum Ende des 20. Jahrhunderts aus und wage erneut die heterodoxe Ansicht, dass ein Stellungskrieg mit den verfügbaren Mitteln, selbst mit erweiterten Guerillamethoden hier nicht lange funktioniert hätten.

Der armenische Premierminister musste also die erste Chance nutzen, die einen realen Waffenstillstand bringen würde, drei Abkommen waren gescheitert, weil die Aseris bzw. Türken Eroberung wollten und keinen Frieden, das haben sie oft genug betont. Der ideale Zeitpunkt war somit wenige Stunden nachdem die Aserbaidschaner einen russischen Kampfhubschrauber über armenischen Territorium abgeschossen hatten. Ich vermute, damit wollte Aserbaischan bzw. die Türkei Herrn Putin mitteilen, dass sie bereit sind, so viele Jihadis wie nötig in diese Region zu bringen.

Pashinyan teilte bezüglich der sog. Kapitulation mit: "Das Dokument wurde zu einem Zeitpunkt unterzeichnet, als Schuschi (Schuscha) bereits gefallen war und Stepanakert direkt bedroht war, und es war ziemlich problematisch, Ressourcen zu finden". (...) "Die größte Schuld, die mir zugeschrieben wird, ist die Unterzeichnung des Dokuments, das besagt, dass ich damit einverstanden bin, drei Distrikte - Aghdam, Lachin und Kelbajar - an Aserbaidschan zu übergeben. Es mag merkwürdig klingen, aber dabei ging es nicht um den Rückzug, sondern darum, [Gebiete] zu behalten, denn in dieser Zeit, als Schuschi gefallen war, berichtete mir der Generalstab der Streitkräfte der Republik Armenien, dass die Ressourcen in einem ziemlich problematischen Zustand seien. Um es milde auszudrücken, teilte auch die politische Führung von Artsakh mit."

Man kann dem Mann wohl keinen Vorwurf machen. Aber klar, dem Armenier wurde wieder einmal die Pistole auf die Brust gesetzt und das Resultat kann man als Kapitulation interpretieren. Es ist natürlich ein nicht auszuhaltender Zustand, weil Rumpf-Arzach von Armenien komplett abgetrennt wurde. Aber vergessen Sie nicht, es wurde nicht aus der Position der Stärke verhandelt. Dass überhaupt ein Stück bei den Armeniern verbleiben durfte, ist quasi Putins Geschenk für die treuen Jahre zuvor. Man wird Pashinyan aber irgendwann dafür danken. Ob das letzte Wort zu Arzach gesprochen wurde, wage ich dennoch zu bezweifeln. Warten wir ab, was die nächsten beiden US-Präsidenten machen werden. Es gilt zudem die armenischen Hardliner davon zu überzeugen, dass sie bei all dem berechtigten Schmerz dennoch vernünftig und zukunftsgewandt agieren müssen.

Was wird mit den ehemals sog. „besetzten Gebieten“ bzw. dem Kerngebiet des armenischen Arzachs passieren, das größtenteils Aserbaidschan zugeschlagen wurde? Die Aseris werden wie einst die Türkei in Anatolien vormachte, sakrale Bauten oder generell alte Stätten und Bauwerke als Baustoff oder Truppenübungsplatz benutzen. Die ersten Bewohner verbrennen bereits ihre Häuser, nichts soll den Aseris und ihren Schergen in die Hände fallen. Die Evakuierung bzw. Flucht hat längst begonnen.

Es gebe aber noch zwei oder drei viel schlechtere Varianten eines Friedensabkommens, die Putin hätte unterschreiben können. Die vollständige Übergabe Arzachs beispielsweise, dann gebe es natürlich noch immer Krieg und wie ich bereits z.B. in „Arzach ist weder verloren noch besiegt" ausführte, wären alle jungen Männer Arzachs und ein großer Teil der jungen Männer Armeniens nicht mehr vorhanden. Die andere Variante wäre noch schlimmer, nämlich zusätzlich noch freier militärischer Durchzug für die Aseris nach Nachitschewan und das nicht nur über eine Autobahn, sondern mit einer Pufferzone, die vielleicht 50km oder breiter hätte sein können, also faktisch eine Abtrennung von Südarmenien. Und es gebe noch eine weitere Variante, die undenkbar für viele im Westen erscheint, die ich hier andeutete.

Ganz kurz nochmal hier und ich stelle das erweitert als spekulative Frage in den Raum: Wenn Erdogan gewusst hätte, dass auch Armenien nicht über fortschrittliche Waffensysteme verfügt, wäre er vermutlich auch in Armenien einmarschiert? Vorausgesetzt Ankara hätte Russland wirklich herausfordern wollen. Als zweitgrößte Militärmacht der NATO wäre Armenien rasch eingenommen worden. Den darauf folgenden, möglicherweise jahrelangen Häuser- und Partisanenkampf hätte er wohl billigend in Kauf genommen, weil ihn vermutlich seine Jihad-Freunde ausgetragen hätten. Jihad-Kämpfer sind ja eh eine unerschöpfliche Quelle. Erdogans Generalstab war sicherlich klar, dass Armenien Arzach zu Hilfe eilen würde, aber nicht mit seinem ganzen Militär. Zum Glück hat Ankara niedrig gepokert. Ob Russland in diesen wenigen Stunden reagieren hätte können oder wollen, bleibt natürlich für dieses Szenario spekulativ.

Armenien muss jetzt radikal umdenken und sich erneuern, mit allem was dazu gehört, inkl. militärische Aufrüstung. Armenien ist von Feinden oder zumindest von zwielichtigen Nachbarn umgeben. Dass ausgerechnet der Iran ein notgedrungener Partner sein muss, gefällt mir persönlich absolut überhaupt nicht. Der Umstand, dass nun wieder russische Soldaten im Land sind, ist aber eher neutral zu bewerten.

Viele Fragen sind dennoch berechtigt: Weshalb wurde nie richtig aufgerüstet? Oder hat man diese Technologie nur nicht für Arzach eingesetzt? Wo sind die Gelder der Diaspora für Arzach versickert? Aber diese Frage gilt auch für Armenien. So gut auch Bildung, medizinische Versorgung, Müllabfuhr usw. auch sein mögen, es erklärt nicht den Verbleib der ganzen Summen. Neben Aufrüstung bleiben die wichtigsten Punkte: Armut verringern bzw. Arbeitsplätze schaffen und überhaupt weiterleben, also existieren! Ebenso müssten neue Bündnisse und neue Verträge geschaffen werden.

Ich kann die große Politik nicht beeinflussen, wie ich immer wieder betone, aber ich kann kleine Anschübe geben und vielleicht liest meine Zeilen jemand, der wiederum ein wenig mehr Einfluss hat. Jeder, der den Armeniern wohlgesonnen ist, kann auf kleiner kommunaler Ebene ebenfalls Anschübe geben, z.B. in Form von Partnerstädten, Bürger- und Studentenaustausch uvm. Darüber hinaus kann man gewisse Länder und Produkte meiden und andere Sachen aus anderen Ländern dafür umso mehr konsumieren.

Natürlich mache ich mir auch Gedanken, über den Grund für den Angriff, ob es dieses oder jenes war, es ist mir letztendlich egal. Die Rolle der Türkei empfinde ich jedenfalls dabei als extrem schlimme Zumutung aus vielerlei Gründen. Ich erwähne nur das allgemein Belastende, was ich immer wieder erwähne, nämlich den Umgang zwischen Türken und Armeniern in Deutschland und natürlich in der Türkei selbst. Aber es gibt noch weitere Punkte, über die ich an dieser Stelle nicht weiter ausholen möchte. Dazu habe ich mich seitenweise geäußert und jede Zeile macht es nur noch unerträglicher. Warum also gerade jetzt ein Angriff? Klar, Revanche zum bestmöglichen Zeitpunkt, während der US-Präsidentschaftswahlen, deren Ausgang über die eigene Sicherheit entscheidet, Neuverteilung von Bodenschätzen, zudem ist der Planet mit Corona abgelenkt usw. Daneben waren die Armenier wie immer mit sich selbst beschäftigt. "Der zweitgrößte Feind des Armeniers sei der Armenier selbst." Das ist nicht von mir, aber ich habe das immer wieder gelesen und es scheint manchmal richtig zu sein. Selbst Sunzi hätte den Zeitpunkt auch nicht besser beschreiben können. Militärisch gesehen ist das also nachvollziehbar. Aber sonst ergibt das alles keinen Sinn. Nachtrag: Außer es geht tatsächlich um Bodenschätze. Siehe die beiden Links am Anfang dieses Abschnitts. Es ist gut möglich, dass es tatsächlich "nur" um Schürfrechte und Öl ging. Das erinnert an die Thematik um Kohlenwasserstoffvorkommen im Mittelmeer. Wenn es also so ist, dann finde ich das immer wieder erstaunlich, dass die Machteliten sich über die Verteilung von Bodenschätzen nie einig werden und stattdessen lieber Menschen opfern. Es hätte viele akzeptable Vereinbarungen geben können.

Mit wenigen Lichtblicken hat fast die gesamte Staatenwelt den Angriffskrieg Ankaras und Bakus - mit ihren Jihadis und anderen auswärtigen islamischen Kämpfern - gegen Arzach nicht sofort verurteilt. Es wurden keine nötige Schritte eingeleitet, z.B. mit Sanktionen, nicht einmal Sondersitzungen bei UN, NATO, OSZE, G7/8 usw. gab es! Selbst als die ersten Kriegsverbrechen bekannt wurden! Es ist erst ein paar Wochen her, nicht mehrere Jahre. Erst jetzt reagieren die Vereinten Nationen.

Ich möchte noch auf etwas anderes aufmerksam machen und Sie dazu animieren selbst zu spekulieren oder zu verschwörungstheoretisieren: Es ist ja irgendwie nachvollziehbar, dass der armenische Auslandsgeheimdienst und die militärische Aufklärung nicht mitbekommen haben, das sich ein Angriff anbahnt. Aber da Manöver in Aserbaidschan u. a. mit den Türken abgehalten wurden und man somit andere Truppenbewegungen als sonst sieht, das hätten vielleicht nicht die Streitkräfte Armeniens mitkriegen müssen, aber andere Staaten. So etwas ist nämlich immer extrem interessant für Freund und Feind. Diese anderen Staaten sind jene, die über Satellitenüberwachung verfügen oder zumindest Satellitenzugangszeiten buchen können. Alle Ministerien, die irgend etwas mit Sicherheit zu tun haben, sind immer besetzt, es gibt niemals Stillstand, vor allem niemals in der Luftüberwachung und keinesfalls in Krisengebieten. Das gibt es in keinem einzigen entwickelten Land. Eigentlich sogar nirgends. Truppenbewegungen hätten also registriert und weitergegeben werden können und müssen. Ich will nicht noch weiter ins Detail gehen, aber eine Vermutung äußern: Es war eventuell von allen Beteiligten und scheinbar Unbeteiligten exakt so gewollt, wie es eben kam. Vielleicht war sogar die vollständige Umsiedlung geplant, was aber möglicherweise sogar für Putins Berater ein Schritt zu viel war. Oder Moskau lässt sich Rest-Arzach für zukünftige Ereignisse als Trumpfkarte offen.

Was hier gespielt wird, das weiß ich nicht und jeder andere, der nicht im Dunstkreis von Machteliten verkehrt, kann es auch nicht wissen. Unsere Enkel oder Urenkel werden frühestens erfahren, was hier wirklich los war. Ich denke, ich habe einen kleinen Einblick in historische Ereignisse und behaupte, dass kein militärischer Konflikt und keinesfalls ein Krieg ohne Wissen und auch Abnicken der Weltmächte begonnen werden konnte, was auch heute noch Gültigkeit besitzen düfte. Kurzum: Es gibt keine Zufälle in der Weltpolitik.

Es macht mich traurig und zornig zugleich, wie schon wieder heimtückisch mit den Armeniern umgegangen wird. (Siehe z.B. Bruch des Vertrages von Sèvres.) Menschenleben ist für einen bestimmten Menschenschlag nichts wert, das war schon immer so. Aber, dass es heute wieder Leute gibt, die von ähnlicher Verschlagenheit sind und das offenbar in Millionenstärke - denn sie applaudieren zu alldem was passiert - das ist schon extrem schlimm.

Mögen die eigenen Völker ihre Kriegstreiber strafen...

Screenshot aus Video bei: https://southfront.org/how-to-lose-territories-and-surrender-interests-for-dummies/ https://southfront.org/how-to-lose-territories-and-surrender-interests-for-dummies/

4
Ich mag doch keine Fische vergeben
Meine Bewertung zurückziehen
Du hast None Fische vergeben
6 von 6 Fischen

bewertete diesen Eintrag

Aron Sperber

Aron Sperber bewertete diesen Eintrag 14.11.2020 10:20:37

philip.blake

philip.blake bewertete diesen Eintrag 13.11.2020 06:27:56

Tourix

Tourix bewertete diesen Eintrag 13.11.2020 01:19:34

Matt Elger

Matt Elger bewertete diesen Eintrag 13.11.2020 00:17:11

6 Kommentare

Mehr von Frontano