Erdogan-Gegner sind auch Genozid-Leugner

Wegen des bevorstehenden Jahrestages zum Völkermord an den christlichen Volksgruppen im Osmanischen Reich, gibt es in türkischen Medien wieder vermehrt Artikel und Kommentare zu diesem Thema zu lesen. Da offensichtlich die Wahlen in der Türkei ein ermüdendes Thema darstellen, wird das Thema Genozid als gutes Ablenkungsthema in den sozialen Medien behandelt. Vermutlich auch wegen des neuen Kinofilms „The Promise“, dessen Bewertung von hunderttausenden Völkermord-Leugnern und -Relativierern geshitstormed wurde, obwohl es noch gar nicht im Kino angelaufen ist.

Vor einigen Tagen musste ich auch auf der Arbeit das Argument hören, dass die Archive in Armenien verschlossen seien, aber auch das Streitthema bezüglich der Anzahl der Toten wurde angesprochen. Ich habe ihnen erklärt, dass es Unsinn ist, dass irgendwelche Archive in Armenien verschlossen wären und man mit 2 Minuten googeln, sämtliche gewünschten Details hierzu herausfinden kann. Zudem schilderte ich, dass es völlig unerheblich ist, ob 823.459 in den Jahren 1915/16 starben oder 1.497.324. Der Versuch eine Ethnie oder eine andere Gruppe auszumerzen, ob vollständig gelungen oder nicht, bezeichnet man weltweit als Genozid. Unabhängig davon, ob der Begriff erst nach dem Zweiten Weltkrieg entstand und der Begriffserfinder „Jude“ war und beim Tehlirian-Prozess als Beobachter im Publikum saß. (Tatsächlich immer wieder ein Thema.) Von den Tausenden Toten der Pogrome in den 1890er Jahren habe ich noch nicht einmal etwas erwähnt.

Traurig ist immer wieder zu sehen, dass meine Gesprächspartner nie die Argumente der Gegenseite ansehen, nicht einmal von türkischen Historikern und Autoren wie z.B. von Taner Akcam, Hasan Cemal oder eben von westlichen Forschern. Mir ist klar, dass es mühselig ist, Originalquellen selbst zu lesen. Ansich wäre das nicht einmal notwendig, schließlich gibt es nunmal professionelle Berufsgruppen, die Schrifterzeugnisse, Augenzeugenberichte, Fotomaterial usw. gesichtet und ausgewertet haben. Die Geschichtswissenschaft ist sich überdies auch bezüglich der Ereignisse während des Ersten Weltkrieges auch einig, sofern sie nicht direkt oder indirekt vom türkischen Staat bezahlt wurde.

Meine Diskutanten - aber auch jene, denen man im Netz immer wieder mal begegnet – beten sämtliche Relativierungs- und Vertuschungspropaganda herunter, die Mr. McCarthy und Konsorten vor Jahrzehnten verbreiteten und gegenwärtig immer noch tun. Erwähnenswert ist hier z.B. die TV-Dokumentation „Sari Gelin“, obwohl jedes vorkommende Argument nun mehrfach entkräftet wurde. Die Bibliotheken sind voll mit unwiederlegbaren Fakten. Aber dennoch kommen einem sogar Gesprächsfetzen entgegen, wie solche, dass die Armenier einen Völkermord an den Türken verübt hätten. Es ist einfach nicht zu fassen!

Solche Gespräche musste ich mir zwar all die Jahre schon anhören und selbst führen. Das absolut erschreckende derzeit ist aber, dass meine Gesprächspartner der letzten Tage, wirkliche Gegner des Präsidialsystems sind und somit weder Erdogan- noch Graue Wölfe- Anhänger! Natürlich ist das nicht repräsentativ, aber ich würde gerne eines Besseren belehrt werden wollen.

Es ist sogar recht gut untersucht, welche Personengruppen beteiligt waren. Also lässt sich schon von vornhinein ausschließen, dass z.B. der Soldat, der an den Dardanellen kämpfen musste, an den Massakern beteiligt war usw. Ebenso gab es eine Vielzahl von türkischen und kurdischen Wächtern - deren Gruppen ja mehrheitlich aus paramilitärischen Einheiten mit Freigelassenen bestanden - die sich weigerten bei den Gräueln mitzumachen. Es gebe gute Gründe zu erforschen, wer diese Männer waren, ebenso die vielen namenlosen Türken und Kurden, die den Armeniern, Griechen, Aramäern bzw. Assyrern halfen, ihr leben zu retten. Womöglich sollte man auch in nicht-wissenschaftlichen Kreisen näher betrachten, wer von den deutschen Offizieren direkt und indirekt beteiligt war, Deportationen und Erschießungen durchzuführen, ebenso jene, die sich weigerten. Wie hoch der Anteil der verschiedenen christlichen Volksgruppen in der heutigen Türkei wäre, ist ebenso wissenswert.

Ich versuche meinen Diskutanten immer zu erklären, dass es weder DIE türkische noch DIE deutsche Schuld gibt. Die Akten belegen beispielsweise, dass türkische Kriegsverbrecher Unterschlupf in der Weimarer Republik genossen und einige leider sogar unter Mustafa Kemal Atatürk rehabilitiert wurden, obwohl sie vorher von seiner Regierung verurteilt waren. Wer nicht direkt oder indirekt involviert war, kann ja kaum etwas damit zu tun haben. Das wäre ja sonst Kollektivschuld oder auch Sippenhaft im Konkreten. Damit will ich sagen: Wenn man schon felsenfest von irgendetwas überzeugt ist und man unbedingt mitreden will, dann ist man wenigstens moralisch verpflichtet, sich sämtliche Sachverhalte bezüglich eines Themas anzusehen. Speziell bei diesem Thema geht es nämlich um Empathie und Gefühle. Die Auslöschung von ganzen Generationen, Familien, Identitäten, Religionen, Kulturen, Völkern, Volksgruppen und Institutionen ist nichts, wo man einfach nur seine Meinung haben sollte. Es ist historisch gesehen gerade mal rund hundert Jahre her, da wurde das Christentum in Anatolien quasi aus dem Bewusstsein der Menschheit ausradiert.

Damit zwangsweise zusammenhängend, wurde 1923 die letzte griechische Bevölkerung umgesiedelt. Heute leben die Nachkommen der Überlebenden und Vertriebenen in der Mehrzahl in der Diaspora, abgesehen von den Griechen, wo in Hellas die Mehrzahl der Griechen weltweit lebt. Die Bevölkerung in der heutigen Republik Armenien machen dagegen nur die Hälfte dieses Volkes aus. Das Bewusstsein bei den Nachfahren ist logischerweise somit noch vorhanden, ebenso der Schmerz eines Verlustes, der sich vielleicht wie ein Phantomschmerz anfühlen mag. Das Unverständnis und Ignoriert-werden aber auch das Immer-herabgewürdigt-werden und sich Verstecken-müssen, fühlt sich nunmal auch nach mehreren Generationen nicht positiv an.

Ich für meinen Teil, kann (mit Abstrichen) nicht mit meinen türkischen Bekannten über den Völkermord im Osmanischen Reich sprechen. Meine Verwandten meiden das Thema bei ihren türkischen Freunden und Kollegen sowieso, ebenso wie sie ihre Identität niemals thematisiert haben, in den über vierzig Jahren in Deutschland lebend – sozusagen stillschweigend ignoriert, beiderseits. Gerade in Deutschland/Austria wird das Nebeneinander mit Türken immer komplizierter, im besonderen Maß mit der steigenden Kopftuchzahl, die man sehr wohl als Indikator verwenden kann. Die übermäßige Zustimmung zum Präsidialsystem ist da noch nicht einmal verwunderlich gewesen, für Leute, die ihre türkischen Nachbarn besser kennen, als die naiven, gutmeinenden Eingeborenen. Ein Zusammenleben existiert nunmal meist nur punktuell... aber das ist ein anderes Thema.

https://www.birthrightarmenia.org http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/2/24/Armenian_gravestones._Lake_Van.JPG

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