Für die Türkei ist es nun zu spät

Erdogan hätte der beliebteste Türke seit Atatürk sein können. Nun ist er wohl einflussreicher als Atatürk geworden, aber dafür ist er auch der unbeliebteste Türke der Neuzeit. Egal, seine Wähler feiern und verteidigen ihn, wie einen Onkel oder Vater, in sämtlichen Facebook-Gruppen und in den Kommentarspalten der Online-Magazine. Oder wer außer den Tayyip-Fans, dem Großteil der türkischen Nationalisten sowie arabischen und ein paar nicht-türkischen Antisemiten mag ihn bzw. seine Regierungsagenda?

Tatsächlich war es so, dass er einem wirklichen Friedensprozess mit der PKK so nahe war, wie sonst kein türkischer Regierungschef vor ihm. Zudem gab es noch bis vor drei bis vier Jahren gute Aussöhnungsschritte in Richtung der christlichen Minderheiten. Sogar die Restaurierung (aus privaten Spenden) von einst zerstörten Kirchen und Wiedereröffnung von griechischen Klöstern und Ausbildung von orthodoxen Geistlichen war wieder denkbar gewesen.

Die Christen in der Türkei hatten sogar die ernste Hoffnung, dass Erdogan, obwohl er offenkundig ein Islamist war und ist, ihre Stellung verbessert - quasi von Menschen dritter Klasse zu Menschen zweiter Klasse macht. Denn nachweislich wurden viele Gesetze verbessert und zumeist eingehalten, juristische Willkür wurde immer seltener und es war reale Zuversicht allerortens zu verspüren, auch in wirtschaftlichen Belangen. Nach den Gezipark-Vorfällen wurden diese Hoffnungen schnell wieder zerstört. Und heute, da trauen sich selbst in den westlich anmutenden Amüsiervierteln, kaum noch junge Leute mehr, draußen ihr Raki mit Wasser oder ein Efes aus der Flasche öffentlich an den Restauranttischen zu trinken. Frauen sowieso nicht mehr. Es gab sogar körperliche Auseinandersetzungen mit Passanten und organisierten Mobs. Es klingt abstrus, war und ist aber so. Von Heavy Metal Fans und anderen Subkulturen, mit ihren wiederkehrenden und wachsenden Schwierigkeiten, oder von Freizügigkeit (für türkische Verhältnisse) oder gar Homosexuellen schreibe ich nur folgendes: Da laufen die Uhren gerade mit maximaler Geschwindigkeit wieder rückwärts - ebenso bei Türken in Deutschland und Austria.

Ich erinnere mich an relativ offene Diskussionsrunden im türkischen Fernsehen, als man kritische Autoren bezüglich Völkermord an den Armeniern und auch dem damit verbundenen Thema der armenischen (Ur-)Großmütter eingeladen hatte. So etwas ist heute undenkbar. Nun hoffen die Christen, dass die Pogromnacht von 1955, an dem zumeist Griechischstämmige zu leiden hatten, sich nicht in irgendeiner Art und Weise wiederholt. Viele dieser Familien schicken schon seit längerem ihre Kinder zum Studieren und Arbeiten ins Ausland. In ein paar Jahren werden nur noch ein paar Tausend Christen in der Türkei leben, darunter kaum noch junge Leute - auf dem Grund und Boden ihrer Vorfahren.

Es gab kurzzeitig einen positiven Trend für die Türkei, nämlich Zuwanderung aus dem Ausland, Kauf von Immobilien etc., aber das ist endgültig vorbei. Wer will schon in perfekter Lage am Strand leben, wo sich abends keine Frau mehr auf die Straße traut (außer vielleicht vollverschleiert), wo nachts „Flüchtling“sboote ankommen, frühmorgens der Nachbar durch ein Sondereinsatzkommando abgeführt wird, weil er angeblich mit Terroristen sympathisiere und tagsüber beim Shopping eine Autobombe in der Seitenstraße hoch geht?

Als die Vertreibungen der Jesiden rund um das Shingalgebirge begannen und dann in Kobane der Kampf unerträglich wurde, hatte Erdogan zwar internationales Recht eingehalten und sich nicht eingemischt. Aber wir wissen, das er recht wenig von Menschenrechten hält, was wir heute offenkundig sehen müssen. Also, was hätte passieren müssen? Die Türkei hat die zweitgrößte Armee der Nato und genügend Kommandoeinheiten um kleinere und größere "Probleme" aus dem Weg zu schaffen. Ganz zu schweigen von den Panzerbrigaden, die auch an den Grenzen ihren Dienst verrichten – egal wie veraltet die Technik sein mag, selbst nicht-computergestützte Zieltechnik wäre ausreichend gewesen. Ich denke, es muss hier nicht weiter ausgeführt werden, wie schnell der IS seine Stellungen geräumt hätte, wenn sich das türkische Militär damals in Bewegung gesetzt hätte.

Doch leider ist es so, dass die Verstrickungen des Erdogan-Umfeldes - zusammen mit den Golfstaaten - bezüglich Öl-Lieferungen aus IS-Gebieten sowie Spital-Versorgung von Jihadisten und deren Rekrutierungen in der Türkei, ebenso die Durchlässigkeit der syrisch-türkischen Grenze, bis heute ziemlich viele Fragen aufwerfen.

Ob der höchst dilettantische, sogenannte "Gülen-Putsch" nun tatsächlich von dieser islamistischen Sekte initiiert oder doch nur von der Regierung inszeniert war (die meisten Beteiligten waren Wehrpflichtige und ihnen wurde gesagt, dass sie an einer Übung teilnehmen) um letztlich ein Präsidialamt zu installieren, wie in Frankreich, USA, Russland etc. ist völlig unerheblich. Fakt ist, dass hunderte Menschen völlig unnötig starben. Noch heute fließt täglich Blut in der Türkei, im Namen der Gerechtigkeit. Und im Namen dieser Gerechtigkeit werden unschuldige Menschen aus ihren Häusern vertrieben oder verlieren im Besten Fall nur ihren Job, aber gleichzeitig auch ihre Reputation. Die Terroristen von der PKK und ihrer Splittergruppen sind womöglich in die Falle des MIT getappt und töten ohne Sinn und Verstand ebenfalls weiter.

Die Logik des Krieges, seit den ersten Luftschlägen der Türkei gegen den IS und zeitgleich gegen die PKK, ist hier übrigens bestens zu studieren. Die Reaktionen der Anhänger sämtlicher Fraktionen werden für jetzige und zukünftige Generationen von Psychologen und Soziologen viel Beschäftigung bieten.

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