Die erste Nacht mit einem Lebenszeichen von meiner Mutter endet morgens um fünf Uhr früh am Küchentisch bei einer Tasse Kaffee. Draußen ist es noch stockfinster und Josef und ich schleichen durchs Haus, damit wir meine Mutter nicht aufwecken.
Josef und ich unterhalten uns über das weitere Vorgehen und entscheiden uns, meine Geschwister zu informieren. Da wir nicht wissen, wie es weitergeht, erscheint es uns menschlich einfach richtig, den beiden die Möglichkeit zu geben, die Mutter nochmals zu sehen, sollte es zu Ende gehen.
Ich schicke eine Nachricht per Facebook an meine Schwester. Ich aktualisiere den Zustand unserer Mutter mit wenigen Worten, da meine Schwester ja ohnehin nach dem Sturz im Krankenhaus anwesend war. Und ich bitte sie, unseren Bruder davon in Kenntnis zu setzen.
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Danke!
Das Verhältnis zu meinem Bruder besteht von meiner Seite nicht wirklich. Es ist nicht schlecht, es ist nicht gut, es ist nur so, als hätten wir zufällig die selben Eltern und damit hören unsere Gemeinsamkeiten definitiv auf.
Und ich bitte darum, auch die Enkelkinder zu informieren, sofern sie ihre Oma noch mal sehen wollen.
Meine Kinder informiere ich selber, was leichter geht, da ich sowieso ständig mit ihnen im Kontakt bin.
Und dann lasse ich den Tag auf mich zukommen.
Gegen halb acht Uhr morgens versorgen wir meine Mutter, sie muss gewickelt und umgebettet werden, wir ziehen sie um, kämmen ihr die Haare und sind erstaunt, wie schwierig diese Handgriffe zu bewältigen sind, wenn der zu versorgende Mensch keinerlei Regung zeigt. Dann fahre ich zur Ärztin, denn zu Hause sitzen und warten macht mich wahnsinnig.
Ich bekomme einen Verordnungsschein für eine Dekubitusmatratze gegen das Wundliegen und einen Verordnungsschein extra gegen einen Fersendekubitus.
Damit fahre ich wieder nach Hause. Meine Mutter hat jetzt die Augen offen, spricht aber nicht und Josef verzweifelt daran, dass sie keine Flüssigkeit zu sich nehmen will.
Ich telefoniere mit dem Sanitätshaus, versichere mich, dass die Dekubitushilfsmittel lagernd sind und mache mich auf den Weg. Vorher checke ich noch meinen Facebookaccount, aber es ist noch keine Antwort gekommen. Ich finde das zwar seltsam, fahre aber dennoch los um die Heilbehelfe zu holen.
Die Matratze bekomme ich, den Heilbehelf für den Fersendekubitus zahlt die Krankenkasse nicht - ich solle der Ärztin bitte mitteilen, dass sie ein anderes Produkt verordnen soll. Ich bin defintiv nicht in der Stimmung, diesem Schwachsinn auf den Grund zu gehen und verabschiede mich wieder.
Gegen Mittag bin ich wieder zu Hause. Josef verkündet stolz, dass meine Mutter scheinbar auf ihren Namen reagiert und unser Pflänzchen Hoffnung treibt aus.
Wir heben meine Mutter vom Bett in den Rollstuhl, müssen sie aber mit einem Polster am Vorneüberkippen hindern und binden sie mit einem langen Schal in Brusthöhe fest. Den Kopf fixieren wir mit einem weiteren Polster. Es ist ein erbärmlicher Anblick, aber wir müssen die Dekubitusmatratze ja im Bett platzieren.
Die Matratze bläst sich im Schneckentempo auf, ich versuche meiner Mutter das unbequeme Warten zu erleichtern, setzte mich hinter sie auf einen Stuhl und lege ihren Kopf an meinen.
Auch wenn keine erkennbare Reaktion kommt, hoffe ich doch, dass ihr die Zuwendung gut tut.
Dann ist die Zeit gekommen und Josef und ich hieven meine Mutter wieder ins Bett, versorgen sie mit einer neuen Windel, stellen die Rückenlehne auf und überlegen, ob es sinnvoll ist, ihr Flüssigkeit zu verabreichen.
Während Josef instinktiv für meine Mutter ein "Nest" baut, indem er mit Polstern und Decken für eine bequeme Lage für meine Mutter sorgt, hole ich Wasser aus der Küche.
Meine Mutter reagiert auf das Glas an ihrem Mund....
sie öffnet ihn, will trinken, kann aber dann nicht schlucken und das Wasser rinnt ihr aus den Mundwinkeln. Ich versuche es ein zweites, dann ein drittes Mal, aber das Ergebnis bleibt das selbe. Das Wasser rinnt aus den Mundwinkeln.
Das zieht mir irgendwie den Boden unter den Füßen weg. Selbst wenn ich weiß, dass es gerade im Endstadium einer Demenz dazu kommen kann, dass der Mensch die Fähigkeit zum Schlucken verlernt, so will ich das grade nicht akzeptieren.
Ich muss raus - egal wohin, einfach nur weg....
Es ist einfach nur ungerecht, eben war die Hoffnung noch da und jetzt kommt der nächste Rückschlag.....
An der kühlen Luft schwindet der Frust schnell wieder und ich gehe zurück ins Haus. Inzwischen ist es früher Nachmittag.
Ich suche mein Handy, registriere, dass mich meine Geschwister nicht angerufen haben und schaue sicherheitshalber meine Nachrichten durch.
Nichts...... aber die Nachricht wurde zumindest gelesen. Josef hat Kaffee gekocht. Hunger haben wir beiden keinen und so sitzen wir Löcher in die Luft starrend, jeder für sich seinen Gedanken nachhängend in der Küche und warten......