Abschied in Raten - Kindheitserinnerungen

Ins Burgenland ist es von uns aus nicht sonderlich weit, weil wir sehr grenznah in der Steiermark wohnen. Auch nach Niederösterreich ist es nicht sehr weit - allerdings führen uns unsere Ausflüge eher nach Süden oder Osten. Meine Mutter ist im Burgenland geboren - am südlichsten Zipfel.

In den letzten Tagen hat wohl die andauernde Hitze, neben den üblichen Verhaltensweisen, auch Erinnerungen hervorgerufen. Was genau der Auslöser war, lässt sich nicht mit Bestimmtheit festlegen, aber in ihren Erzählungen war meine Mutter manchmal ein kleines Kind, dann auch mal ein junges Mädchen.

Ein oder zwei Mal in der Woche fahren wir nach Pinkafeld oder auch nach Oberwart zum Einkaufen. Meistens ist es meiner Mutter vollkommen gleichgültig, wohin wir fahren, lediglich die Anwesenheit von Josef ist ausschlaggebend für ihr Wohlbefinden. Manchmal aber fragt sie, wo wir grad sind. Ist Oberwart die Antwort, dann kommt wie aus der Pistole geschossen Jennersdorf, Güssing, Oberwart, Oberpullendorf, Mattersburg, Eisenstadt, Neusiedl am See. Es ist schon erstaunlich, wie das Gedächtnis in dieser Hinsicht noch funktioniert.

Noch heute Morgen hat mich meine Mutter nach meinem Familiennamen gefragt, wobei ich mich aber schon damit zufrieden geben kann, wenn sie denn meinen Vornamen kennt.

Von den burgenländischen Bezirken, die sie oft gut eine Stunde beschäftigen, gelingt ihr hin und wieder eine Überleitung an die eine oder andere Erinnerung an ihre Kindheit und Jugend. Manchmal sitzt sie dann da und erzählt Geschichten.

Ihr Schulweg war lange und mühsam. Über eine Stunde lang sei sie bei jedem Wetter zur Schule unterwegs gewesen. Ihre Schuhe hätten selten gepasst. Sie war das fünfte von sechs Kindern, hatte 2 Brüder und drei Schwestern. Meist hat sie die Schuhe der älteren Geschwister getragen, die Kleidung sowieso. Im Sommer lief sie barfuß.

Jeden Tag vor der Schule war sie mit Stallarbeit beschäftigt. Ihr Vater war streng, die kleine Schwester habe er vorgezogen, sagt sie und noch heute tut ihr diese Ungerechtigkeit weh. Vor allem sei sie nahezu jeden Tag zu spät zur Schule gekommen. Irgendwann musste dann der Vater zur Schule kommen, weil die Frau Lehrerin nachfragen wollte, warum das so sei. Der Vater sei ein wortkarger Mensch gewesen und es war ihm sichtlich lästig, dass er vorgeladen worden war. Meine Mutter erzählt weiter, dass die Frau Lehrerin dem Vater gesagt habe, dass sie ein kluges Mädchen wäre und er solle sie doch einen Beruf erlernen lassen. Aber es gab kein Geld dafür, lediglich die verhasste kleine Schwester durfte dann nach Graz in die Stadt, wo sie in einem noblen Geschäfthaushalt eine Lehre begann. Sie selber musste dann bei einem benachbarten Großbauern arbeiten - wer essen will, muss arbeiten, sagte der Vater.

Meine Großmutter starb, als meine Mutter acht Jahre alt war. Sie war etwa 2 Jahre vor ihrem Tod gestürzt und hatte sich das Rückgrat gebrochen. Meine Mutter erzählt, dass die Kinder, also sie und die Geschwister auch noch ordentlich lästig gewesen wären - da am Krankenbett der Mutter. Von ihrer Mutter habe sie nur wenige Erinnerungen. Die langen, dunklen und sehr dichten Haare, die in zwei Zöpfen geflochten links und rechts bis fast zur Hüfte der Mutter reichten. Und dass ihre Mutter oft vor Schmerzen geschrien habe, dass man sie doch endlich sterben lassen solle. Verstanden habe sie das als Kind nicht - aber brav war sie halt auch nicht, sagt meine Mutter und die Schuldgefühle, die sie hat, sind nahezu ungreifbar.

Ich will ihr ein bisschen über den Kummer hinweghelfen und behaupte, dass Kinder eben lebhaft wären. Da wäre sie wohl keine Ausnahme und das ist auch gar nicht weiter schlimm. Das bringt meine Mutter auf andere Gedanken und sie erzählt vom Schulhof, wo sie in den Pausen Fangen gespielt haben. Auf die höchsten Bäume sei sie geklettert, nur um nicht erwischt zu werden und da die Bäume dicht standen, sie es auch schon vorgekommen, dass sie von einem Wipfel zum anderen gesprungen sei. Dass der Wipfel, der dann zurückwippte, gefährlich für den Jäger werden konnte, ja soweit habe sie nicht gedacht. Und - es waren sowieso meist die Kinder von den Protestanten und es habe immer Streit zwischen den Protestanten und den Katholiken gegeben. Ihr Vater habe ihr verboten, mit den Protestantenkindern zu spielen, sagt sie und bekommt ein sehr nachdenkliches Gesicht.

Ich frage sie, warum das so war - und sie antwortet mit einer entwaffnenden Offenheit, dass sie das selber nicht weiß, aber der Vater habe es eben gesagt und so musste es dann eben auch sein.

Sonntags sind sie in die Kirche gegangen. Im Sommer hat der Gottesdienst im Freien stattgefunden, sagt sie und der Schelm blitzt in ihren Augen auf. Sie war halt kein besonders braves Kind, sagt sie und die alten Betweiber sind dann in Reih und Glied draußen auf den Bänken gesessen und haben fromm gebetet. Meine Mutter hat sich dann hinter die Betweiber geschlichen und die Schürzenbänder erst aufgemacht und dann zwei Schürzen zusammengebunden. Und weil die Weiber ja so mit Beten beschäftigt gewesen waren, hätten sie das nicht mitbekommen. Beim Aufstehen aber wollte die eine nach links weggehen und die andere nach rechts,  und beide sind dann umgefallen. Das habe ihr zu Hause eine Tracht Prügel beschert und sie musste ohne Abendessen ins Bett.

Aber der Pfarrer sagt sie, das war eine Schande - er wäre so ein schöner Mann gewesen und dann verschwendet er sich an die Kirche. Sie war über beide Ohren verliebt in den Pfarrer, schwelgt sie weiter in Erinnerungen, aber da war halt nichts zu machen. Sonntags nach der Kirche habe es meist zur Feier des Tages eine Semmel gegeben. Eine Semmel war was ganz besonderes. Einmal, dass weiß meine Mutter noch ganz genau, da wollte sie sich die Semmel für später aufheben. Am Nachhauseweg von der Kirche wären die Kinder im Wald rumgelaufen. Die Semmel wäre ihr dabei aus der Hand gefallen und sie konnte gar nicht schnell genug schauen, da hatte sich ein Vogel die Semmel geschnappt.

Meine Güte, habe sie da geweint, sagt meine Mutter, und dafür, dass sie geweint hat, habe sie vom Vater gleich wieder eine Ohrfeige bekommen. Sie hätte eben besser aufpassen sollen. Und dann erzählt sie vom großen Kirschbaum, von der dreibeinigen Katze, vom Nachbarshaus, wo es immer nach Dünger gerochen hat, wo es aber die besten Mehlspeisen gab und davon, als sie das erste Mal eine Orange bekommen hat.

Alle Geschichten, die meine Mutter erzählt, sind mit Emotionen verbunden und alle Emotionen sind im Gesicht meiner Mutter wie in einem offenen Buch lesbar. Ich bin dankbar, dass sie diese Erinnerungen mit uns teilt, denn in nicht allzu langer Zeit werden wohl auch diese Erinnerungen verschwunden sein.

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Silvia Jelincic

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fischundfleisch

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Joekah

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