Abschied in Raten - "repeat"

Heute sind wir mit ein bisschen Kleinkram im Gepäck zum neuen Zuhause gefahren. Für die Möbel haben wir ja am Wochenende einen Möbelwagen, aber unsere Habseligkeiten, die problemlos im Kofferraum und auf der Rückbank unseres Wagens verstaut werden können, sind nach und nach bereits übersiedelt. Das erste, das ich von hier weggebracht habe, waren meine Bücher.  Ein breites Spektrum an Kochbüchern, Krimis oder Thriller ohne Ende, das eine oder andere Sachbuch und selbstverständlich auch noch ein paar Kinderbücher. Die, die meinen Kindern am Herzen gelegen sind und die so schon so oft gelesen wurden, dass man sie über weite Strecken schon auswendig kennt.

Heute haben wir Geschirr transportiert, fein säuberlich in Zeitungspapier gewickelt, damit ja nicht kaputt geht. Vor allem meine Kaffeetassen nicht, welche ich in allen Grünschattierungen habe. Ich bin da gar nicht eigen, aber Kaffee aus einer grünen Tasse schmeckt eben am besten. Dieser Spleen wird von Josef belächelt, der seinen Kaffee aus jeder Tasse trinkt, selbst wenn sie rosa ist.

Im Laufe der Jahre hat sich doch eine Menge Geschirr angesammelt, und so verzichten wir heute auf die Mitnahme des Rollstuhls für meine Mutter, weil der doch verhältnismäßig viel Platz im Kofferraum braucht. Da meine Mutter heute ganz gut auf den Beinen ist, muten wir ihr den Weg vom Auto ins Haus einfach einmal zu. Vom Auto bis zum neuen Haus sind es geschätzte 25 Meter - das sollte zu schaffen sein.

Wir fahren also los, meine Mutter thront auf dem Beifahrersitz und verkündet gleich nach der ersten Kurve, dass sie selber nicht mehr Auto fahren könnte, weil sie nichts sieht. Josef nimmt das schweigend zur Kenntnis, was meiner Mutter offensichtlich missfällt, denn wie wiederholt ihre Aussage, diesmal ein bisschen lauter. Ich selber sitze, in meiner Bewegungsfreiheit massiv durch zwei Kartons und einen Korb eingeschränkt, auf der Rückbank und versuche mich vergeblich aufs Lesen zu konzentrieren, was dadurch erschwert wird, da Josef scheinbar seine Stimmbänder zu Hause vergessen hat und meine Mutter innerhalb des ersten Kilometers bereits fünfmal mitgeteilt hat, dass sie nicht mehr Auto fahren kann. Mir stehen noch rund 59 Kilometer bevor und klappe leicht entnervt mein Buch zu, was Josef dazu veranlasst, mir einen fragend kritischen Blick durch den Rückspiegel zuzuwerfen.

Ich werfe einen giftigen Blick zurück und Josef sagt zuckersüß, dass er mich nicht beim Lesen gestört habe, schließlich habe er kein Wort gesagt. Auch wenn er damit recht hat, so ändert das nichts daran, dass er ein klitzekleines bisschen Verantwortung daran hat, dass meine Mutter ihre Dauer "repeat" aktiviert hat und abermals dazu ansetzt, zu erklären, dass sie nicht mehr Auto fahren kann.

Ich überlege kurz, ob ich meiner Mutter antworten soll, verwerfe aber den Gedanken gleich wieder. Erfahrung macht klug und ich weiß dass sie vollkommen verwirrt wäre, wenn ich vom Rücksitz aus mit ihr sprechen würde. Kaum sind wir eingestiegen, hat sie vergessen, dass ich auch noch da bin, denn sie sieht mich ja nicht. Und da sie Josef an ihrer Seite hat, kümmert es sie wenig, ob noch wer da ist. Ich sehe aus dem Fenster. Ist ja die einzige Alternative, die ich eingequetscht wie eine Sardine hinten im Auto habe. Lesen ist mir nicht vergönnt, denn meine Mutter hat eben eine zweite Tonspur gefunden, die sie monotan ablaufen lässt. Früher sei sie viel mit dem Auto gefahren, wiederholt sie in Abständen von maximal 2 Minuten. Für die nächsten paar Kilometer ist also für Unterhaltung gesorgt.

Zumindest brummt Josef nun hin und wieder seine Zustimmung. Meine Mutter erkennt das sogleich als Aufforderung, um aus der Aussage, dass sie viel mit dem Auto gefahren wäre, eine Frage zu formulieren. Jetzt ist Josef im Zugzwang - da sie fragt, nötigt sie ihn zum Antworten. Aus dem Monolog wird ein Dialog, immer noch mit anscheinend gedrückter "repeat" Taste. Meine Mutter fragt, Josef antwortet. Ich drücke wie ein kleines Kind meine Nase gegen das Fenster, wobei ich eine sehr eigenwillige Verrenkung in Kauf nehmen muss, weil ich ja zwischen Kartons und Korb eingequetscht bin. Meine Gedanken fliegen davon und ich mein Gehirn blendet den Dialog aus der ersten Reihe aus.

Leider dauert dieser Zustand nicht sehr lange, denn als Josef einem Radfahrer ausweicht, stoße ich mir die Nase am Fenster und werde in die Realität zurückkatapultiert. Es gibt scheinbar eine neue Tonspur. Meine Mutter beschwert sich, dass sie nicht mehr wissen würde, wo sie fahren sollte, denn sie würde ja nicht mal sehen, wo die Straße wäre. Ich realisiere, dass wir glücklicherweise inzwischen schon recht weit gekommen sind - die nächste Autobahnabfahrt können wir abfahren. Vielleicht, so denke ich, geht es sich aus, dass wir es bis zum neuen Haus schaffen, ohne dass die Stimmung meiner Mutter so weit in den Keller rutscht, dass sie in Selbstmitleid verfällt, weil sie gar nichts mehr kann - wie sie in solchen Situationen gerne verkündet.

Als wir von der Autobahn abfahren und am Stoppschild halten müssen, fragt meine Mutter, ob wir schon da wären? Josef konzentriert sich auf den Verkehr und meine Mutter fragt, ob sie aussteigen kann und versucht sich abzuschnallen, was ihr glücklicherweise nicht schnell genug gelingt, und Josef setzt den Wagen wieder in Bewegung.

Ein paar Minuten später sind wird da. Meine Mutter schafft problemlos zu Fuß den Weg zur Bank, die unterm Fliederbusch steht. Sie setzt sich also hin und für zwei Minuten ist es still. Josef und ich räumen die Kartons ins Haus, Ausräumen geht noch nicht, da die Möbel noch nicht da sind. Beim Ausräumen sind Josef und ich bedacht darauf, dass immer einer von uns in Sichtweite meiner Mutter bleibt - anders geht es ja kaum noch.

Als ich das dritte Mal zum Auto gehe, fragt mich meine Mutter, was wir hier machen würden. Wir räumen das neue Haus ein, erkläre ich hier und fische mir einen Karton aus dem Auto - und meine Mutter fragt mich, was wir hier machen würden.....

Kann mir bitte mal jemand sagen, wo die Stopptaste ist?

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Joekah

Joekah bewertete diesen Eintrag 14.12.2015 23:17:13

fischundfleisch

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