Abschied in Raten - Ungewissheit

Die Müdigkeit übermannt mich, irgendwann zwischen zwei und drei Uhr morgens. Josef, der pragmatischere von uns beiden, schläft seit Stunden und tankt seine Energie auf. Ich beneide ihn nicht zum ersten Mal um die Fähigkeiten sich auf die Begebenheiten des Lebens einzustellen und die Dinge so anzunehmen, wie sie kommen.

Nach einem kurzen, wenig erholsamen, sehr unruhigen Ausruhen, das die Bezeichung Schlaf in keiner Weise verdient, schäle ich mich aus dem Bett.

Meine Mutter hat die Nacht überlebt. Sie liegt teilnahmslos im Bett, reagiert kaum auf Josef oder mich. Aber sie hat die Augen immer wieder mal offen.

Josef erinnert mich daran, dass der Bruch der linken Elle und Speiche versorgt werden muss und wir organisieren einen Rettungstransport.

Das Warten auf den Rettungswagen verbringen wir abwechselnd am Bett meiner Mutter. Alles andere erscheint plötzlich sehr unwichtig. In der Küche steht der Topf mit dem Essen vom Vortag am Herd. Glücklicherweise hat Josef wenigstens den Herd abgedreht.

Ich empfinde eine vollkommene Gleichgültigkeit des Küchenchaos wegen und wundere mich nicht im Mindesten darüber, wie schnell sich Prioritäten verschieben können.

Von innen heraus bin ich auf einmal sehr müde. Josef überlegt, was wir meiner Mutter anziehen sollen - der Rettungswagen wird in absehbarer Zeit hier sein.

Im Kleiderschrank findet sich nichts, was einem ins Auge springt, wenn man bedenkt, dass meine Mutter keinerlei Anstalten macht, sich in irgendeiner Weise am Anziehen zu beteiligen.

Eine halbe Stunde sind wir damit beschäftigt, meine Mutter soweit anzuziehen, dass sie nicht gleich erfriert. Dafür sieht sie nun aus wie ein halbfertig gerupftes Huhn. Die Haare zu bändigen dauert weitere zehn Minuten und ist nur zu zweit möglich.

Es ist erstaunlich, wie schwierig die alltäglichsten Dinge werden.

Der Rettungstransport ist da und während ich mir noch meine Gedanken mache, wie man meine Mutter aus dem sehr verwinkelten Haus mit wenig Platz im Vorraum transportiert, greifen die beiden Sanitäter beherzt zu und bugsieren meine Mutter auf ein Leinentuch. Dann nehmen sie das Leinentuch am Kopf- und am Fußende und sie tragen meine Mutter nahezu problemlos zur Rolltrage. Meine Mutter lässt alles vollkommen regungs- und emotionslos über sich ergehen.

Josef verabschiedet sich und steigt umständlich in seiner eingeschränkten Beweglichkeit in den Rettungswagen. Er wird meine Mutter heute begleiten.

Meine Gefühle schnüren mir die Kehle zu. Zum ersten Mal keimt Angst auf. Angst davor, dass meine Mutter das nicht überlebt, Angst dass sie es überlebt und ein totaler Pflegefall bleibt, Angst davor, dass wir den, wie auch immer gearteten Herausforderungen nicht gewachsen sind. Eigentlich ist es egal, wie es weiter geht, denn alles ist auf die eine oder andere Weise von Angst durchzogen.

Ich habe den Drang zu weinen, kann es aber nicht. Statt dessen setze ich mich an den Küchentisch und starre Löcher in die Luft.....

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