Je suis – Ich bin – wer auch immer: Je suis Charlie, je suis Lampedusa – whatever. Petitionen hier, Petitionen da – whatever. Um das eigene Gewissen zu erleichtern, reicht es nicht aus, die Mit- und Beileidsbekundungen mit einem „Enter“ zu beenden. Es muss weiter gehen! Auf zwei Ebenen.

Wer heutzutage in Europa geboren wird, ist mit großer Wahrscheinlichkeit auf die Butterseite des Lebens gefallen. Auf jeden Fall im Vergleich zu vielen anderen Teilen dieser Erde. Auch in Europa gibt es sehr viele, große Probleme, die das Leben mehr als vergellen. Arbeitslosigkeit, Austerität und Co. gefährden das Konzept eines geeinten Europas.

Doch für hunderttausende, für Millionen Menschen auf der Welt, geht es um weit mehr als Arbeitslosigkeit. Mehr als 50 Millionen Flüchtlinge, Asylsuchende und Binnenvertriebene zählt der UNHCR. 16,7 Millionen gelten als „Flüchtlinge“, ein Großteil stammt aus dem sub-saharischen Afrika, aus dem Mittleren Osten und Nordafrika. 33,3 Millionen Menschen gelten als Binnenvertriebe, die innerhalb ihres Landes auf der Flucht sind und gemäß Genfer Flüchtlingskonvention kein Recht auf Asyl haben. Etwas mehr als eine Million Menschen stellte – vornehmlich in den Industrieländern des globalen Nordens – Asylanträge.

Europa bzw. die EU sieht sich mit der Aufgabe konfrontiert, vor allem als Ziel für Flüchtende aus dem Nahen und Mittleren Osten sowie Afrika zu gelten. Die meisten dieser Flüchtlinge können, blickt man auf die Situation im Irak, Syrien, Libyen oder Afghanistan, als Kriegsflüchtlinge gelten. Bei diesen Menschen geht es,ums nackte Überleben. Nicht, wie einige behaupten, um eine Verbesserung in ökonomischer Hinsicht. Selbst für die ist letztlich Europa als Teil des globalen Nordens mitverantwortlich.

Der problematische Umgang ergibt sich aus verschiedensten Gründen. Zum einen aus der Klassifikation heraus. Die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) stammt aus 1951. Das war eine Zeit, in der Staaten vornehmlich gegeneinander Krieg führten. Demgemäß bezieht sich Artikel 1 der GFK auf Menschen, die „ aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes befinde[n], dessen Staatsangehörigkeit sie besitz[en], und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen [können] oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen [wollen].“

Der Knackpunkt hierbei ist die Staatsangehörigkeit. Damit werden streng genommen Flüchtinge eines Bürgerkriegslandes wie etwa Syrien von der Regelung nicht mitgemeint. In der strengen Wortlautauslegung – die viele Asylgerichte heranziehen – fallen da unzählige Menschen heraus. Darum mehren sich auch die Stimmen, die die GFK „updaten“ wollen. Schließlich ist die Sicherheitslage in Ländern wie Syrien oder dem Irak sehr schwer durchschaubar. Auch in „friedlichen“ Ländern wie Afghanistan bedeutet ein offizieller Friedenszustand nicht automatisch, dass die Bedrohung weg ist.

Zum anderen ergibt sich der problematische Umgang auch aus der Kombination EU und Parteienlandschaft in Europa. Die Nationalstaaten haben sich im Zusammenhang mit der EU weitreichende Kompetenzen in der Außen- und Sicherheitspolitk behalten. Ein Organ, das von oben herab verordnen kann, wie Frontex zu agieren hat, gibt es nicht. Und die nördlicheren EU-Länder, unter anderem Deutschland, haben wenig Interesse daran, sich an der Flüchtlingsrettung zu beteiligen – sonst hätte man Italien mit der Marineoperation Mare Nostrum nicht alleine gelassen. Dadurch folgte auf die Rettungsaktion Mare Nostrum auch Triton, eine Grenzsicherungsmaßnahme. Hinzu kommt, dass gemäß der Dubliner Übereinkommen zu den Asyl-Bestimmungen innerhalb der EU nur einmal um Asyl angesucht werden kann, in dem Land, das als erstes betreten wird, was wiederum nur die „Grenzländer“ betrifft. Einen legalen Einreiseweg gibt es nicht. Das ist fein – für die nordeuropäischen Binnenländer.

Kommen wir zur Parteienlandschaft. Egal ob christ- oder sozialdemokratisch, die beiden alten Zentrumsströmungen in Europa fürchten die politischen Ränder, vornehmlich den rechten in Person von Le Pen, Vlaams Belang, FPÖ oder AfD. Mit Sicherheitsthemen, die gerade diese Rechtsaußenbewegungen sich auf die Fahne heften, lassen sich vortrefflich Wahlen gewinnen. Vermutlich ist das auch der Grund, warum die Sicherheits- und Außenpolitik nicht in den Händen einer Kompetenzstelle liegt. Gerade gestern verschärftenbeispielsweise ÖVP-Innenministerin Johanna Mikl-Leitner und der Minster*innenrat das Fremdenrecht. Wer sich SPD-Chef Sigmar Gabriels Aussagen zu dem Thema – Stichwort Kosten und Schlepperbanden – durchliest, sieht, woher der Wind weht.

Zudem eignen sich schwammige, das persönliche Leben der allermeisten Staatsbürger*innen nicht betreffende Aussagen vortrefflich, um eigene Regierungsprobleme zu überdecken. Am Geld kann es nicht liegen. Mare Nostrum kostete Schätzungen zu Folge knapp 10 Millionen Euro im Monat – bei einem jährlichen BIP in der EU (sogar ohne Kroatien) von 15,25 Milliarden Dollar. Ein Hohn, dass wir die Menschen wegen des Geldes absaufen lassen, wenn nicht fahrlässig töten. Und das ganze Gefasel von Schleppern, langfristige Pläne in den Ländern vor Ort und dem ganzen Scheiß sollte man sich von den Staats- und Regierungschef*innen sowie so nicht mehr länger anhören. Die Menschen ersaufen jetzt. In dieser Sekunde. Weil die nur zusehen und wir sie gewähren lassen. Unter 500 Millionen Menschen kann doch eine Million gar nicht auffallen!

Somit schließt sich der Kreis zum Texteinstieg. Was können wir tun, außer Petitionen zeichnen und in der Onlinewelt unter Hashtags und mit Bildchen unsere Solidarität zu bekunden? Und da gibt es im demokratischen Europa eine gute Möglichkeit: Diese menschenverachtende, mordende Politik peu a peu abzuwählen, sich nicht mehr von den rechten Rattenfängern, den alternativlos-schwafelnden Zentrumsparteien und ihren willfährigen Steigbügelhaltern verführen zu lassen. Die haben Europa in den letzten Jahren – nicht nur im Zusammenhang mit Flüchtlingen – tief in die Scheiße rein geritten.

Und am Ende möchte ich noch träumen. Als Sofortmaßnahme könnte man doch auf Kickstarterein Jahr Mare Nostrum crowdfunden. In Zahlen: Die 120 Millionen Euro sollten doch 500 Millionen EU-Bürger*innen zusammenbringen; 22 Cent pro Nase. Kann wer Italienisch und Matteo Renzi anrufen?

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Silvia Jelincic

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