Am Dienstag und Mittwoch fand die Armutskonferenz statt. Das gleichnamige Netzwerk gegen Armut und soziale Ausgrenzung ist quasi die Lobby derer, für die es keine Gewerkschaft und keine Kammer gibt – und auch wenig Gehör in den politischen Entscheidungsgremien.

Wer an Armut denkt, hat unweigerlich Bilder von Elendsvierteln in Entwicklungsländern im Kopf. Oder den klassischen Clochard, der vormittags auf der Parkbank den Rausch vom erbettelten Fusel ausschläft. Doch das sind nur zwei Aspekte. Absolute Armut wird derzeit von der Weltbank mit weniger als der Kaufkraftparität von 1,25 US-Dollar pro Tag bemessen. In Europa maßgeblich sind 60 Prozent des mittleren Pro-Kopf-Einkommens für einen Einpersonenhaushalt. Das sind nicht ganz 1.100 Euro und betrifft laut Armutskonferenz etwa eine halbe Million oder sechs Prozent der Wohnbevölkerung Österreichs. 300.000 Menschen haben allerdings deutlich weniger, sie haben nicht mehr als 600 Euro zur Verfügung. Neben den wirtschaftlichen Folgen ist vor allem die sogenannte Deprivation, die soziale Ausgrenzung wichtig – das Wort leitet sich von dem lateinischen Ausdruck „privare“, berauben ab. Gemeint ist in der Psychologie ein „psychischer Zustand der Entbehrung, der dadurch entsteht, dass das Individuum seine ursprünglichen oder erlernten Bedürfnisse nicht oder nur unzureichend befriedigen kann.“ Und weiter: „Wer von Armut betroffen ist, hat ein geringes Einkommen, schlechte Bildungschancen, ist häufiger krank und kann am gesellschaftlichen Leben nur eingeschränkt teilnehmen."

Heute Vormittag hielt Klaus Dörre, Soziologie-Professor an der Universität Jena, eine bemerkenswerte Key Note auf der Armutskonferenz. Dörre sprach im Großen und Ganzen über das deutsche Jobwunder, über Hartz IV und den Umstand, dass es im EU-Parlament viel Gehör findet. Wir kennen das Gewicht Deutschlands innerhalb der Europäischen Union. Arbeit ist heutzutage der Schlüssel zum Einkommen und zum Leben. Aber die Deprivation ergibt sich aus dem Prekariat. Damit meint Dörre nicht nur prekäre, unsichere Beschäftigungsverhältnisse (also etwa kein echtes, unbefristetes Angestelltenverhältnis), sondern vor allem die Arbeitsverhältnisse selbst. Bei diesen ist „der Vertrag sicher, aber zu wenig Geld da. Prekariat meint die Bittleihe, also den Nutzen einer Sache, die vom Geber jederzeit widerrufen werden kann. Das sind also Arbeitsverhältnisse, die nicht dauerhaft existenzsichernd sind.“ Der Begriff Bittleihe zeigt auch an, welches Gedankengut dahinter steht: Irgendjemand strengt sich nicht genug an – was mit viel Wohlwollen als antiquiertes Gedankengut bezeichnet werden kann. Wirtschaft und Staat lenken das mit. Laut Dörre ist das aber auch ein Ansatz, der in Gewerkschaften Anklang findet.

In Deutschland hat Hartz IV dieses Prekariat genau diese Deprivation, diese soziale Ausgrenzung mitbegründet. Wer rund um Hartz IV verdient, ist gesellschaftlich nicht mehr respektiert. Dörre attestiert des Weiteren, dass ein nicht unbedingt steigendes Arbeitsvolumen durch atypische Beschäftigungsverhältnisse auf immer mehr Schultern verbreitet wird – Teilzeitbeschäftigung, Geringfügigkeit, Leiharbeit. Zehn bis 15 Prozent der im globalen Norden lebenden Menschen werden somit aus dem Umfeld halbwegs gesicherter Erwerbsarbeit ausgeschlossen. Damit diese heterogene Masse nicht lauter ist, dafür sorgt der Staat sinngemäß durch Einsatz von Zwang. Wer sich nicht an die Spielregeln hält, wird bestraft. „Wer 2,32 Euro brutto pro Stunde bei Hartz IV-Bezug ablehnt, wird sanktioniert“, so Klaus Dörre. Denn der „Mindestlohn gilt für Langzeitarbeitslose nicht.“

Zahlen und Daten lassen sich nur bedingt auf Österreich umlegen. So sind es etwa „nur“ knapp sechs Prozent der Menschen, die relativ arm oder armutsgefährdet sind. Ein gesetzlich vorgeschriebenes Entgelt für einen Monat Vollzeitbeschäftigung gibt es in Österreich zudem nicht einmal. Und die Mindestsicherung hilft auch kaum weiter – aufgedröselt auf ein imaginäres echtes Beschäftigungsverhältnis (und ohne weitere Beihilfen, Förderungen und so weiter) erachtet der Gesetzgeber rund 710 Euro monatlich als ein angemessenes Mindesteinkommen für eine alleinstehende Person. Nicht zu vergessen ist auch der Einstiegssatz des ORF Salzburg im Bericht über den ersten Tag der Armutskonferenz: „Armut ist vor allem weiblich, Armut betrifft vor allem Ältere, Armut ist erblich.“

Den Gender-Aspekt zeigen vereinfachte Rechenbeispiele. Das Vollzeitbruttoeinkommen 2013 gemäß Statistik Austria liegt für Frauen auf Netto umgerechnet bei ungefähr 1.580 Euro. Umgelegt auf eine 30-Stunden-Stelle wären das in etwa 1.280 Euro netto pro Monat. Die etwa 300 Euro entspricht in großen Teilen dem, was für die Kinderbetreuung ausgegeben werden muss. Abgesehen von dem Aspekt, dass a) die Vollzeitstelle erst einmal gefunden werden muss und b) fraglich ist, ob man überhaupt Vollzeit arbeiten will. Vereinfacht: Ob Teilzeit oder Vollzeit ist für eine alleinerziehende Mutter zumindest in finanzieller Hinsicht fast egal.

Diese gesammelten Überlegungen zeigen, dass sich am Arbeitsmarkt und in der sozialen Grundsicherung einiges tun muss. Wir können doch nicht ernsthaft in einem der reichsten Länder der Welt leben und es akzeptieren, dass 500.000 Menschen an oder unterhalb der Armutsgrenze leben und zu einem Gutteil auch noch arbeiten gehen. Am Geld kann es in Österreich nicht scheitern – und weltweit auch nicht. Brigitte Unger von der Universität Utrecht sagte auf der Armutskonferenz: „Wir müssen von den 0,1 Prozent Vermögenden, wo sich das Vermögen sowohl in Österreich als auch in der EU angesammelt hat, diesen Teil wieder abzwacken und den Armen, den unteren Einkommensbeziehern zur Verfügung stellen.“ Und weiter: „Wir haben alleine in Europa 1.000 Milliarden Euro an Geldwäschegeldern, die da wären. Wir haben weltweit 32 Billionen Euro an Steuerhinterziehungs- und Geldwäschegeldern.“  (Anm: Medienberichte sprechen von Milliarden Dollar, entspricht so ungefähr 26 Billionen Euro)

Wer nun noch immer denkt, dass Armut rein selbst verschuldet ist, dem sei noch ein Satz von Klaus Dörre ins Stammbuch geschrieben: „Wir leben nicht mehr in einer Fahrstuhlgesellschaft, in der es nur nach oben geht. Eher in einer Pater-Noster-Gesellschaft, in der es rauf und runter geht.“

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