Gerade habe ich einen Blog gelesen, in dem jemand sinngemäß meinte: "Die Indianermorde waren nicht so schlimm wie die Taten des Dritten Reichs."
Das hat mir zu denken gegeben. Und ich habe mich gefragt, ob es sinnvoll ist, zwei schier unglaubliche Verbrechen gegeneinander aufzuwiegen, um eines davon als weniger schlimm einzustufen. In weiterer Folge ist in mir der Gedanke gekommen, ob ein Denken darüber (wer ist schlechter) nicht a.) nur dazu führt beide Verbrechen gedanklich zu verkleinern und zu verdinglichen und b.) die Gedanken von einem viel sinnvolleren Denken, nämlich, "was können wir in Zukunft besser machen", abhalten.
Ich denke, es darf heute nicht mehr darum gehen, wer hier "schuldiger" ist. Unbestritten ist die Planung und "professionelle" Durchführung der Ermordung von Millionen unschuldiger Menschen im Dritten Reich in der gesamten Menschheitsgeschichte beispiellos. Das aufzuwiegen gegen die Vernichtung der Indianer bringt aber nichts. Beides ist bestürzend, unfassbar und hätte nie geschehen dürfen. Und dasselbe gilt für weitere Beispiele wie: Türkenkriege, Ku Klux Klan, Rote Khmer, Holodomor, Völkermord Armenien,...
Es macht meiner Meinung nach keinen Sinn, hier seine Kraft und seinen Fokus darauf zu verwenden die Deutschen (und Österreicher) per se auf Ewigkeiten zu verteufeln und der Kriegsgeneration alle guten Charakterzüge einmal pauschal abzusprechen. Denn damit machen wir eigentlich nichts anderes, als dass, wofür wir sie beschuldigen. Nämlich die guten Seiten in anderen nicht zu sehen, diese zu Verleugnen und einer ganzen Gruppe abzusprechen Menschen zu sein. Unsere Großeltern waren nicht allesamt Teufel. Sie hatten ihre guten und ihre schlechten Züge. Auch wenn die Gesamtheit Ihres individuellen Verhaltens zu einem kollektiven, teuflischen Verhalten geführt hat. Es macht auch keinen Sinn nachfolgende Generationen, die damit nichts mehr zu tun haben, in moralische Geiselhaft zu nehmen. Es erzeugt - berechtigterweise - Zorn, Wut und Hass, wenn man für etwas beschuldigt wird, für das man persönlich gar nichts kann. Auch die Vergangenheit als wohlfeiles Totschlägerargument in vielfältigen Situationen (z.B. Kritik an israelischer Politik oder in Diskussionen um Asylpolitik) einzusetzen ist unfair und erzeugt Ohnmacht, Wut und Starsinn.
Diese Einstellung, die das zugelassen hat (fehlende Empathie, Hass, Missgunst, Neid, Mangel an Selbstliebe und vor allem an Selbstrespekt), steckt mMn in jedem Menschen weltweit. Hat es schon immer und wird es auch immer. Beschäftigen sollte man sich daher persönlich damit, wie es dazu kommen konnte. Im Sinne von: Was ginge in mir als Amerikaner, Deutscher vor? Welche Gefühle (Überlebenskampf, Angst, Hass, Neid aber auch Mitleid, Macht, Sicherheit, Verleugnung und Selbstzweifel) würden auf mich wirken? Als Soldat, als Siedler, als Zuschauer. Wie würde ich in diesem Chaos an Gefühlen letztlich selbst reagieren?
Wir erkennen, wie schrecklich die Generation unserer Großeltern war, die z.B. bei einer Mühlviertler Hasenjagd aus dem Konzentrationslager geflohene Menschen mit Holladiro verfolgt und totgeprügelt haben, sie der SS ausgeliefert hatten oder als anliegende Bauern die Türen verschlossen hatten. Aber wir erkennen nicht, welche Angst die Bauern hatten selbst bestraft zu werden, welche Gruppendynamik (Zusammengehörigkeitsgefühl, Macht, Stärke, Sicherheit) bei den "Menschenjägern" gewirkt hat. Und wir erkennen heute auch nicht, was es bedeuted, wenn ein James Cameron es unter Strafe stellt, Migranten ein Quartier zu geben und gleichzeitig das Leben auf öffentlichen Plätzen ebenfalls verbietet. Wir erkennen auch nicht, was es bedeuted, wenn ein Orban in Ungarn jeden über die Grenze gekommenen Flüchtling per Gesetz als kriminell einstuft. Aber wir gehen (vielleicht) in die Kirche und monieren, wie schlecht die Menschen damals waren, die Josef, Maria und Jesus Unterschlupf verweigert hatten.
Das wirklich Traurige finde ich, dass offenbar, dieses Gedankengut - von dem wir dachten und hofften, dass es durch unsere schrecklichen Erfahrungen aus dem Dritten Reich ein für allemal überwunden wäre - in der heutigen Zeit nicht nur nach wie vor vorhanden ist, sondern in vielen Aussagen und Verhalten der jüngsten Zeit ganz deutlich und unverhohlen offen erkennbar ist.
Das lässt den Schluss zu, dass wir auch diesmal nichts aus der Geschichte gelernt haben und es lässt die Befürchtung zu, dass wir das auch niemals werden.
Ich habe aber die Hoffnung, dass wir uns als Summe von derzeit ca. 7,2 Mrd. individuellen Persönlichkeiten auf der Welt (und hier insbesondere der Entscheidungsträger und -beeinflusser) weiterentwickeln und dass wir irgendwann einmal als gesamte Weltbevölkerung einen kritischen Punkt überwunden haben werden. Ab dem es dann nicht mehr zur Entmenschlichung von Menschen kommt. Denn dann gäbe es auch keine Völkermorde, wirtschaftliche Ausbeutung, Unterdrückung und Kriege mehr.
"Was du nicht willst, dass man dir tut, das füg' auch keinem andern zu" oder "Behandle andere so, wie du von ihnen behandelt werden willst" wird in allen Religionen dieser Welt gefordert und ist ein EWIGER KAMPF MIT UNS SELBST um Offenheit und Empathie ALLEN Menschen gegenüber zu erbringen.
Es bedeuted nicht, dass eine Welt in der alle friedlich zusammenleben ein praktisch, realisierbares Ziel ist. Vermutlich sogar nicht.
Es bedeuted auch nicht, dass wir die schlechten Seiten unserer Mitmenschen wegleugnen und allen und immer vergeben müssen. Auch Mördern, Terroristen und Kinderschändern.
Es bedeuted auch nicht, dass wir uns nicht wehren dürfen - im Gegenteil.
Es bedeuted, dass wir gegen Intoleranz, gegen schlechtes Verhalten und gegen böse Mitmenschen ankämpfen sollten. Mit Einfühlungsvermögen und mit Worten, wo möglich. Und mit aller (physischer) Kraft die wir haben, wo erforderlich. Aber auch nicht getrieben aus Rache und Hass.
Es ist ein persönlicher Weg an dem es kein Ankommen gibt, sondern immer nur den Kampf mit sich selbst. Den Kampf um Gut und Böse. Gegen Bequemlichkeit und die Comfort-Zone.