In meinem Alter sollte man den Satz “Früher war es besser“ sehr sparsam verwenden, aber trotzdem sage ich, dass es früher mehr Solidarität unter den Menschen gab und das Wir-Gefühl häufiger spürbar wurde. Das Wort „Gutmensch“ war nicht immer ein Schimpfwort und der „Lügenpresse“ wurde, abgesehen vom kleinformatigen Boulevard, üblicherweise geglaubt.

Man will heute scheinbar keinem Wir mehr angehören. Das Ich scheint alle Gemeinsamkeit zu überstrahlen. Aus Büchern lernen wir, die Kunst ein Egoist zu sein, oder glücklicher leben als Egoist und die Wissenschaft vermittelte den Glauben an Das egoistische Gen. Daneben gibt es den Neoliberalismus, der viele Jahre als gesellschaftspolitische Heilslehre praktiziert wurde und noch immer daran festhält, dass die grenzenlose Freiheit der Wirtschaft aus sich heraus eine stabile Gesellschaftsordnung schaffen würde. Mehr Privat, weniger Staat. So lautete die Devise, an der wir inzwischen erkennen müssen, dass sie den Starken nützt und die Schwachen komplett an den Rand der Gesellschaft drängt.

Wobei ich mich darüber wundere, dass die Verherrlichung des Starken gerade bei jenen sehr ausgeprägt ist, die eigentlich erkennen müssten, dass sie zu den Schwachen zählen und in einem freien Spiel der Kräfte chancenlos wären. Ein Paradoxon, auf das ich hier nicht eingehen möchte.

Was ich hingegen beobachte, ist die zunehmende Vereinsamung der Menschen, als Folge oben angeführter Umstände und verstärkt durch ein Schwinden zwischenmenschlicher Kommunikation (Stichwort: Computer, weniger Bindung an Vereine…) sowie das zunehmende Ausspielen einzelner Gruppen gegeneinander.(Bonus-Malus-Systeme, Pensionen, Kindergeld etc.)

Ich halte nicht viel von Verschwörungstheorien, aber wäre ich ein machtbesessener Finsterling, ich würde genau die Situation herbeiführen, die sich im Moment um uns herum abspielt. Egoistischen Profit zur Maxime erheben, Empathie und Solidarität untergraben, die Menschen separieren. Wenn sich eine Herde auseinander treiben lässt, ist das Individuum schutzlos ausgeliefert und verloren.

Möglicherweise ist das grölende Erwachen des Herdentriebes an den protestierenden Rändern unserer Gesellschaft ein Versuch, in der Gruppe Schutz und Geborgenheit wieder zu finden. Wenn es so ist, sollte man eiligst über weniger zerstörerische Alternativen nachdenken.

Was nämlich parallel zu dieser Vereinzelung geschieht, ist das Verschwinden der gesellschaftlichen Mittelschicht, zu der sich zwar noch immer viele Wähler zählen und fast alle Parteien behaupten, genau diese Mitte zu repräsentieren. Was dieser ehemals als gutbürgerlich bezeichneten Mitte aber fehlt, ist das Gefühl, eine relevante Gruppe zu sein, gemeinsame politische, oder kulturelle Werte zu haben, einen verbindlichen Lebensstil zu pflegen. Und bevor ich jetzt darauf hingewiesen werde, dass an einer solchen bürgerlichen Mittelschicht nicht alles gut war, dass sie vielfach auch kleinkariert, borniert und scheinheilig war, gebe ich zu bedenken, dass dieser sogenannte Mittelstand einen Stabilitätsfaktor darstellte, in den man auch durch Bildung aufsteigen konnte.

Ich werte es als zarten Hoffnungsschimmer, dass der Enthusiasmus um das Götzenbild des Neoliberalismus zu schwinden scheint. Neuere wissenschaftliche Theorien scheinen auch zu belegen, dass es nicht die rücksichtslose Durchsetzung des Einzelnen war, die zum Erfolg der Spezies Mensch geführt hat, sondern eher die menschliche Fähigkeit zu altruistischem Denken und Verhalten. Tief in unseren Gehirnen gibt es offenbar den Trieb zu selbstlosen Taten und mit Hilfe der Spieltheorie lässt sich belegen, dass ein solches Verhalten sogar erfolgreicher ist, als ungezügelter Egoismus. Zu einem starken „Ich“ gehört auch die Beachtung des „Du“

Vielleicht sollte man das bedenken, wenn allzu schnell nach nationalistischer Abschottung gerufen wird, wenn Staat, Politik und Interessensverbände pauschal verurteilt und verdammt werden. Wenn die christliche Aufforderung des „Liebe deinen Nächsten“ nur noch bis an die Gemeindegrenzen reicht.

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