Wir leben in einer Welt, die sehr unübersichtlich geworden ist. Einerseits, weil die Abläufe tatsächlich schneller geworden sind und andererseits, weil die Nachrichten darüber schneller und dichter auf uns einstürmen. Der Film unseres Lebens, in dem wir gefühlt oft nur noch eine winzige Nebenrolle verkörpern, scheint immer schneller zu laufen und immer grausamere Bilder zu zeigen. Bei vielen technischen Geräten, die wir bereitwillig nutzen, wird die Funktionsweise nicht mehr verstanden, bei vielen politischen, gesellschaftlichen oder wirtschaftlichen Vorgängen bleiben die Gründe für die Entscheidungen und die verfolgten Interessen im unverständigen Dunkel. Immer mehr Menschen sind beunruhigt und haben offen oder unterschwellig Angst.

Neu sind solche Sorgen und Ängste aber nicht.

Für junge, aufgeklärte Menschen ist es geradezu amüsant zu lesen, mit welch tiefer Skepsis technische Neuerungen in den ersten Jahren ihres Einsatzes beschrieben wurden (z.B. Peter Rosegger: Als ich das erste Mal auf dem Dampfwagen saß) und mit welch missionarischer Verbissenheit gesellschaftliche Änderungen bekämpft wurden (z.B. wurde Präsident Lincoln wegen seiner Ablehnung der Sklaverei im Amt ermordet).

Rückblickend wissen wir, was sich in der Geschichte durchgesetzt hat und glücklicherweise waren es zumeist die zukunftsorientierten, fortschrittlichen Ideen, die als Basis unseres Wohlstandes gelten können, während Engstirnigkeit und Nationalismen fast immer zu Krieg und Zerstörung führten. Wobei ich zugestehe, dass es schwer ist, sich im Zeitpunkt des Konfliktes zwischen Fortschritt und Bewahren des Althergebrachten zu entscheiden. Zumindest in Europa ist man aber seit der Zeit der Aufklärung bestrebt, bei solchen grundlegenden Entscheidungen möglichst objektiv und rational vorzugehen.

Gegenwärtig habe ich den Eindruck, das war gestern.

Im Moment sehe ich eine enorm gestiegene Unzufriedenheit in fast allen Bereichen, gegenseitige Schuldzuweisungen und eine tiefgreifende Verunglimpfung von Vernunft und Rationalität. Den Argumenten der vor kurzem noch bewunderten Eliten wird heute nichts mehr geglaubt. Es will auch niemand mehr zur Elite gehören und im politischen Jargon wird dieses Wort nur noch zur Diffamierung von Gegnern verwendet.

Wenn ich gestehe, in der Zeit der 68er sozialisiert worden zu sein, wird man mir glauben, dass auch ich der Legitimation von Eliten sehr skeptisch gegenüber stehe. „Trau keinem über 30.“ Stand damals an den Wänden und „unter den Talaren ist der Mief von 1000 Jahren.“ Und meinen Kindern habe ich später erklärt: „Wenn jemand behauptet, er hätte die alleinige Wahrheit gefunden, dann seid bitte prinzipiell misstrauisch.“ Aber in all diesen Jahren gab es so etwas wie ein redliches Ringen um Fortschritt und den Versuch, die Gesellschaft offener und humaner zu gestalten. Und als Weg zu einer solchen modernen Gesellschaftsordnung wurde die Bildung und noch einmal Bildung gepriesen. Sie sollte der Motor für persönlichen Aufstieg und gesellschaftlichen Wohlstand sein.

Heute frage ich mich, was aus all diesen Ideen geworden ist.

Im Verlauf von Wahlkämpfen wird üblicherweise sehr tief in die Emotionskiste gegriffen, weil die Fakten unüberschaubar geworden sind, weil den Parteiprogrammen ohnehin niemand mehr glaubt und die Wähler geradezu stolz darauf sind, nach Gefühl zu entscheiden. Weil auf das Bauchgefühl angeblich Verlass ist, aber nicht auf das Gehirn. Dieser Logik folgend, machen die Oppositionsparteien alles schlecht, was die Regierung getan hat oder gerade tut und zwar nicht auf Grund von Fakten, sondern mittels diffuser schlechter Stimmung. Am wirksamsten, indem sie beim Wähler Angst erzeugen. Das ist nicht besonders schwer, weil die Wirtschaftskrise noch nicht überwunden ist, die Regierungsparteien sich gegenseitig und öffentlich die Schuld in die Schuhe schieben und so ein miserables Bild abgeben und die Flüchtlingskrise jede Menge Stoff liefert, um latenten Ängsten neue Nahrung zu geben. Die große Oppositionspartei gießt also heftig Öl ins Feuer, hat für die meisten Probleme gar keine, oder höchst fragwürdige Lösungen und verfolgt zielstrebig die Absicht, die Österreicher völlig zu verunsichern. Kein Problem, das nicht monströs aufgebauscht wird. Bildung, Pensionen, Gesundheitswesen, Flüchtlinge, Sicherheit, Terrorgefahr. Alles in diesem Land ist angeblich schlecht.

Der Versuch, diesen überzogenen Ängsten Fakten entgegen zu halten, wird inzwischen lächelnd als Propaganda der Lügenpresse, der Linkslinken Eliten und überhaupt all derer die „da oben“ sind abgetan. Besorgte Hinweise, dass diese Partei schon in Regierungsverantwortung war und milliardenschwere Skandale hinterlassen hat, werden blauäugig bei Seite geschoben, weil sie diesmal angeblich alles besser machen wollen und sie an den Skandalen ja überhaupt keine Schuld tragen würden.

Die Wähler wollen auch gar nicht mehr nachdenken. Die Argumente sind alle gesagt, die Bedenken werden beiseite gewischt, weil sich jetzt sofort etwas ändern muss. Am besten gleich alles. Neuer Bundespräsident, neuer Kanzler, weg mit den Kammern, weg mit den Gewerkschaften, der schulischen Bildung, den faulen Künstlern, die endlich was arbeiten sollen, weg mit der Lügenpresse und den linkslinken Schreiberlingen. Dafür wieder Stacheldrahtzäune, mehr Maschinengewehre, mehr Polizeikontrollen, keine Ausländer im Arbeitsmarkt, keine fremdsprachigen Unterhaltungen im Schulhof, Kürzung der Mindestsicherung, keine Homosexuellen in der Öffentlichkeit, keine Gerichtsverfahren sondern sofortige Abschiebung von ausländischen Straftätern, keine Kopftücher, keine Sozialwohnungen für dunkle Typen… schöne neue Welt.

Vielleicht sollte man doch noch einmal nachdenken, ob das nicht längst über die süße Rache einer Denkzettelwahl hinaus geht.

shutterstock/vitstudio

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