Wann immer in unserem Land was schief läuft, ertönt der kollektive Aufschrei nach einer Vorschrift, die das Problem ein für alle Mal beseitigen soll. Das bezieht sich auf die in den letzten Jahren ausufernde Anlassgesetzgebung und reicht bis in die kleinen Verästelungen unserer Gesellschaft, wo etwa in Schulen und Betrieben gerade von jenen nach verbindlichen Normen und Verordnungen gerufen wird, die später zu deren Einhaltung verpflichtet sind.
Dieses ausufernde Reglementieren scheint mir gar nicht so sehr ein Bedürfnis der oberen Führungsetagen sondern eher eine Forderung der mittleren Ebene zu sein, die offensichtlich darum bemüht ist, das eigene Handeln möglichst abzusichern und jedes Risiko zu vermeiden.
Ich beklage dieses längst unübersichtlich gewordene Ausmaß an Vorschriften und Regeln aus zwei Gründen. Erstens bedarf es eines immer umfangreicheren Wissens der erlassenen Gesetze, Verordnungen und Regeln, das letztlich nur noch von kundigen Spezialisten, also von Juristen, bewältigt werden kann, deren Lösungsansätze zumeist rechtlich gesichert, aber fachlich oft fragwürdig bleiben.
Noch gravierender scheint mir aber der zweite Aspekt der Überregulierung. Die Adressaten der unzähligen Vorschriften sind in deren Entstehung oft wenig oder gar nicht eingebunden und empfinden sie deshalb als Diktat von oben, gegen das sie sich nicht wehren können und oft auch nicht wehren wollen. Man nimmt die Regeln also hin und erweist sich als braver Untertan, während man gleichzeitig im Stillen beschließt, eben nicht mehr zu tun, als die auferlegten Vorschriften zu erfüllen. Nicht selten mit der insgeheimen Erwartung, dass die Unterlassung sinnvoller Ergänzungen, die erkannten Schwachstellen der verordneten Maßnahmen bloßlegen und zum Scheitern bringen wird. Das aber betrifft dann wieder die Vorgesetzten, die dann schon sehen werden, wohin ihre Anordnungen führen. (?!!)
Diese Art der destruktiven Erfüllung von Vorschriften findet sich inzwischen in allen unseren Lebensbereichen. Etwa im Umgang mit der vielgelästerten EU-Gesetzgebung, an der praktischerweise immer die anderen schuld sind und natürlich im Beamtenapparat, der definitionsgemäß mit der Vollstreckung von Gesetzen und Verordnungen zu tun hat.
So hat etwa der Fall eines Wiener Waxing-Studios die Gemüter erregt, in dem verlangt wurde, dass ein Arbeitsplatz für Intim-Enthaarung den im Arbeitsrecht geforderten Sichtkontakt ins Freie haben sollte. Dass die Angelegenheit zur Steilvorlage für Kabarettschreiber ausgeartet ist, wurde erst bemerkt, als der Vizekanzler in einer TV-Diskussion dazu Stellung nahm.
Ich kenne Schulen, in denen sich die Lehrer gegen den Wust an Vorschriften auflehnen, in denen Prüfungsmodalitäten geregelt werden. Etwa dass Prüfungen nicht als Mittel für Bestrafungen herangezogen werden dürfen, der Prüfungsstoff vor schriftlichen Prüfungen rechtzeitig bekannt zu geben ist, die Beurteilungskriterien dargestellt werden usw. Daraus wird nicht selten der Schluss gezogen, dass man Schülern nichts mehr beibringen kann, wenn doch jegliches „Druckmittel“ von vornherein eingeschränkt ist. Was wir dann erleben, sind Schulabgänger, die nicht mehr lesen und rechnen können, weil die Lehrer angeblich mit der Einhaltung von Vorschriften überfordert sind.
Ich erspare mir und den Lesern, diese Beispiele fortzusetzen, weil wir alle solche Auswüchse kennen. Auswüchse an denen erkennbar wird, dass ein weiteres Anwachsen von anlassbezogenen Vorschriften dem Funktionieren der Gemeinschaft nicht mehr dienlich ist.
Was wir brauchen würden, wäre ein überschaubares Gerüst von Gesetzen und Vorschriften, das von verantwortungsvollen Bürgern mit Leben erfüllt wird. Eine Verantwortung, die sich nicht entwickeln kann, wenn wir weiterhin bemüht sind, jede Kleinigkeit zu regeln und die Nichteinhaltung der Regelfülle mit drastischen Sanktionen ahnden.
Ich weiß nicht, seit wie vielen Jahren in Österreich von einer notwendigen Durchforstung der Gesetze gesprochen wird. Von einer Entflechtung der Kompetenzen, von Gesetzen, deren Auslegung kein Jus Studium erfordern. Von der Notwendigkeit persönlicher Verantwortung und der vielzitierten eigenen Meinung, die im Dickicht der Vorschriften längst verloren gegangen sind.
Vielleicht sollte man der persönlichen Verantwortung wieder mehr vertrauen und die Menschen tun lassen, was eigentlich notwendig ist.
g.novak