Diese schlichte Erkenntnis hatten zahlreiche ehemalige ÖVP Wähler, die ihrem Unmut in kursierenden Videobotschaften Luft machen. Während selbst der deutsche Innenminister Seehofer davon abgeht, Flüchtlinge im Mittelmeer ertrinken zu lassen, glaubt unser Ex-Kanzler noch immer, dass Seenotrettung mit Fluchthilfe gleichgesetzt werden muss. Womit er sich einmal mehr in die Linie rechtsradikaler Populisten einreiht, die in Europa zunehmend isoliert dastehen. (AfD, Salvini, Orban…)
Politiker haben im Moment so ziemlich alles an Glaubwürdigkeit verloren. Obwohl alle davon reden, dass sie sich auf Sachfragen konzentrieren wollen, obwohl sie alle ihre Reden mit dem Vorspann einleiten, „jetzt einmal sachlich bleiben zu wollen…“ folgt gleich darauf eine persönliche Diffamierung jeglicher Mitbewerber, werden Lügen aufgetischt und trotzdem so getan, als ob eine funktionierende Message Control der wichtigste Teil der Regierungsarbeit wäre.
Wenn man Menschen auf der Straße fragt, was ihnen an der durch das Ibiza-Video gesprengten Regierung besonders gefallen hat, hört man zumeist nur die Antwort: „Die haben wenigstens nicht gestritten!“ Was sich in dieser schmählich gescheiterten Regierung hinter den Kulissen getan hat, scheint niemanden in diesem Land zu interessieren und mehr als die Hälfte der Wähler versteigt sich zu der kühnen Aussage, das Ibiza-Video würde ihre künftige Wahlentscheidung nicht beeinflussen.
Die Mitglieder dieser ersten, durch Misstrauensvotum zu Fall gebrachten Regierung Österreichs behaupten sogar, dass die Regierung erfolgreich gearbeitet hätte.
Dieses Gerede erinnert daran, dass man von einzelnen, ehemaligen Kriegsteilnehmern gelegentlich noch die verbohrte Meinung hören kann, die damalige deutsche Armee sei die beste und schlagkräftigste der Welt gewesen. Den höchst unanständig vom Zaun gebrochenen Krieg, hat sie aber wenig ruhmreich verloren! Ganz ähnlich übrigens wie die angeblich so gut gerüstete Armee Österreichs, die vor dem ersten Weltkrieg meinte, die Gegner im Handumdrehen besiegen zu können und trotzdem schon in den ersten Kriegswochen entscheidende Schlachten und letztlich den von ihr provozierten Krieg verloren hat.
Ich frage mich gelegentlich, wie solch schwerwiegender, paradoxer Realitätsverlust zustande kommt und warum Menschen sich so leicht dazu verführen lassen, gegen ihre eigenen Interessen abzustimmen.
Als die Regierung Kurz vor eineinhalb Jahren gebildet wurde, hat ein nicht unerheblicher Teil der Österreicher und haben zahlreiche Regierungen Europas mit Entsetzen reagiert. Rechtsradikale Populisten in eine Regierung zu holen, galt vom ersten Tag an als ganz besonderes Wagnis und bis auf ein paar wenige Talk-Shows, in denen sich der jüngste Kanzler der Republik als gefinkelter, gut gekleideter Redner präsentieren konnte, hagelte es Misstrauen und Mahnrufe, die eben nur durch eine sehr groß aufgezogene und im Übrigen auch sehr teure Message Control in den Hintergrund gedrängt wurde. Die von der Regierung mit populistischem Geschrei in Angriff genommenen Vorhaben blieben mit Ausnahme des fragwürdigen Familienbonus, des 12-Stunden Arbeitstages und der Abschaffung diverser Förderungen fast alle im Ankündigungsstadium stecken, oder erwiesen sich als klägliche Rohrkrepierer.
Die Balkanroute wurde, wie man heute erkennen muss, nicht von Österreich, also nicht von Herrn Kurz geschlossen, die Polizeipferde des angeblich besten aller Innenminister mussten erst gezüchtet werden, die Fusion der Krankenkassen wird wohl letztlich mehr kosten, als sie einspart. Die große Steuerreform blieb unvollendet liegen, das angestrebte Sparen im System erwies sich als hinter den Kulissen abgewickelte Aufblähung von Staatssekretären, Verbindungsoffizieren in Ministerien, privatem Gebrauch von Dienstautos, horrenden Ausgaben für Feiern in den Ministerien und im Kanzleramt, Parteischulden und überzogene Wahlkampfkosten, kriminellem Spesenbetrug, sowie erstaunlich hohen Ausgaben für die vielgepriesene Message Control, die den Wählern suggerierte, dass diese Regierung sich in allen Punkten einig ist und endlich nicht mehr streitet. Als ob „nicht streiten“ auch schon ein politisches Verdienst sei.
„In einer sich ständig wandelnden, unverständlichen Welt hatten die Massen den Punkt erreicht, an dem sie gleichzeitig alles und nichts glaubten, alles für möglich und nichts für wahr hielten. (…) Die Massenpropaganda entdeckte, dass ihr Publikum bereit war, das Schlimmste zu glauben, egal wie absurd es auch sein mochte, und nicht besonders dagegen war, hintergangen zu werden, weil es sowieso jede Aussage für Lüge hielt.“
Dieses Zitat stammt von Hannah Arendt (1955 in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft) und beschreibt erstaunlich präzise die Zustände gegenwärtiger Politik, in der Trump, Johnson, Orban, Salvini, Le Pen, Farage, aber eben auch österreichische Populisten ihr schamloses Spiel aufführen und den Umgang mit Fake-News zur politischen Normalität stilisiert haben.
Interessanterweise beginnt diese Front von Blendern und Aufschneidern an allen Ecken zu bröckeln.
Die Welt beginnt zu ahnen, dass Trumps Vertragsaufkündigungen nicht Wohlstand für die USA, sondern zunächst Unsicherheiten für die Welt bringen. Der Brexit erweist sich nicht als Stärkung, sondern vorerst als unabsehbare Schwächung und mögliche Spaltung Großbritanniens. Salvini hat sich zunächst einmal verkalkuliert und selbst aus der Regierung katapultiert. Orbans Vorbildfunktion schwindet… Nur in Österreich ist man kurz vor der Wahl der Meinung, einen weiteren Versuch mit einer türkis/blauen Regierung wagen zu können, weil man einem dramatisch gescheiterten Ex-Kanzler vertraut, wenn er seinen erstaunten Zuhörern in Fernsehauftritten versichert, dass er unter den zahllosen Einzelfällen seines gelobten Regierungspartners schwer gelitten, von Ibiza nichts gewusst hat, am Sturz seines Vorgängers unbeteiligt war und alles was gegen ihn vorgebracht wird, das Ergebnis eines Hacker-Angriffs auf den Server seiner Parteizentrale ist.
Ich glaube nicht, dass Österreich durch einen weiteren Regierungsversuch des gescheiterten Ex-Kanzlers existenziell bedroht ist, aber mir fallen keine Gründe ein, warum man einen zweiten Versuch riskieren sollte. Hätte er all die Qualitäten, die er sich großzügig selber zuschreibt, wäre er nämlich meiner Meinung nach nicht derartig patschert gescheitert.
Viel eher glaube ich, dass auch der zweite Versuch einer türkis/blauen Regierung vorzeitig zu Ende gehen wird. Rechtsorientierte Populisten scheinen eben prinzipiell nicht kompromissfähig zu sein. Eine Tatsache, die sich inzwischen überall dort zeigt, wo sie in Regierungsverantwortung gerufen werden.
„Alles oder nichts.“ Das klingt in Wahlreden noch ganz gut. Im politischen Alltag ist es nicht durchführbar. Da hat diese abgewählte Regierung die lange und erfolgreich gepflegte Sozialpartnerschaft nachhaltig zerstört, das Parlament in zahlreichen Fällen missachtet und einem Innenminister vertraut, der mit dem Satz aufhorchen ließ, dass die Verfassung der Politik folgen müsse.
Wenn man den aktuellen Umfragen, wenige Tage vor der Wahl, glauben wollte, dann geschieht das alles mit freundlicher Zustimmung eines Großteils der Wähler. Da darf man sich wohl wünschen, dass die Befragten inzwischen auch gelernt haben, nicht wahrheitsgemäß zu antworten und daher die Wahlumfragen nicht stimmen.