G. Novak
In meinem Alter ist es nicht sonderlich vorteilhaft, über die Vergangenheit zu reden, oder sie gar als positiv darzustellen. Allzu leicht gerät man in die Ecke der alternden Grantler, denen man einfach nicht glauben möchte, dass sie sich auch anstrengen mussten, dass sie auch ihre Zweifel am Gelingen ihrer Vorhaben hatten. „Früher,“ so scheint man sich heute einig, „war alles einfacher. Da war es noch leicht, Optimist zu sein und seine Träume in die Tat umzusetzen.“
Ich möchte einer solchen Einschätzung auch gar nicht widersprechen. Ich bin mit großen Erwartungen ins Gymnasium gegangen und habe es nach der Unterstufe nicht ganz freiwillig, aber mit charmantem Lächeln, verlassen. Danach besuchte ich, mit überraschend gutem Erfolg eine HTL (Fachrichtung Hochbau) deren Abschluss mich in die Lage versetzte, gut dotierte Jobs im In- und Ausland anzunehmen.
Schon da habe ich mich gelegentlich gefragt, warum meine Erfolge im Gymnasium doch eher bescheiden waren, während ich nach nur zwei Monaten Ferien die HTL durchgängig als Vorzugsschüler absolviert habe. Eine mögliche Begründung fand ich in der Tatsache, dass ich ins Gymnasium „geschickt“ wurde, während die Ingenieurausbildung mein eigener Wunsch und, gemessen an der eher zögerlichen Zustimmung meiner Eltern, die schulische Ausbildung weiter zu finanzieren, wohl auch eine letzte Chance war.
Ich habe meinen Vater viel später, nach Abschluss meines Architekturstudiums, gefragt, ob sein damaliges Zögern echt, oder nur gespielt war und er antwortete mit einem verschmitzten Lächeln: “Gewirkt hat´s ja in jedem Fall.“
Ich möchte hier niemandem mit meiner detaillierten Lebensgeschichte auf die Nerven gehen, aber ich denke, dieser kleine Ausschnitt zeigt, wie wichtig es ist, das zu tun, was man selber möchte. Mal abgesehen vom Glück, Eltern zu haben, die ihr Vertrauen und ihre Unterstützung nicht entziehen und Lehrer zu finden, die als Vorbild funktionieren. Für beides bin ich bis heute sehr dankbar.
Ich wollte mit dieser privaten Episode auch darauf hinweisen, dass ich froh bin, in einem freien Land und in einem liberalen Elternhaus geboren zu sein. Ich wurde von Lehrern und Chefs im Großen und Ganzen gefördert und habe keine Rechnungen offen, für die ich jemanden anderen verantwortlich mache.
Obwohl diese Schul- und Studienzeit überaus bewegt und in gewisser Weise unsicher war, erinnere ich mich hauptsächlich an positive Diskussionsperspektiven. Offenbar waren wir uns ziemlich sicher, dass die politischen und gesellschaftlichen Bedingungen nur noch besser werden konnten.
Aus dem Vietnamkrieg wurde man damals mit immer grässlicheren Bildern konfrontiert, Israel und Palästinenser bekämpften sich im Sechs-Tage-Krieg (1967) und im Jom-Kippur-Krieg (1973). In unserer unmittelbaren Nachbarschaft wurde der Prager-Frühling mit dem Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen (1968) beendet. Wenige Jahre nach John F. Kennedy wurde Martin Luther King und zwei Monate später Robert Kennedy (1968) erschossen. Infolge des Biafra-Krieges starben Millionen Menschen an Hunger. In Frankreich eskalierten die Mai-Unruhen an den Universitäten zum Generalstreik, der das Land für Monate lahmlegte und letztlich den Rücktritt von Präsident De Gaulle (1969) zur Folge hatte. Präsident R. Nixon, der später nach dem Watergate-Skandal zurücktreten musste, gewann die Wahlen.
Natürlich konnten wir keines dieser schrecklichen Ereignisse beeinflussen, aber wir erstritten uns eigene Meinungen, so als ob wir demnächst gefragt werden würden. Unbeteiligt waren die wenigsten und besonders nicht die Studenten. Immerhin redeten wir uns ein, dass wir die nächsten sein würden, die zu entscheiden hatten. Der Zug politischer Meinungen fuhr in dieser Zeit eher nach links und manche Historiker sprechen sogar vom Goldenen Zeitalter der europäischen Sozialdemokratie, dem Palme, Brandt und Kreisky ihren Stempel aufdrückten. Dass damals nicht alle hoch zufrieden waren muss nicht extra erwähnt werden und als ich beim Trampen in Schweden, kurz nach Kreiskys erstem Wahlsieg (1970), nach einer Prognose gefragt wurde, meinte ich eher pessimistisch, dass es sich um ein vorübergehendes Intermezzo handeln würde. Wenn man heute zurückblickt und sich anschaut, was dieser Mann in Österreich und international verändert hat, erahnt man das Ausmaß meiner damaligen Fehlprognose.
Die Welt wurde damals auf fast allen Gebieten spürbar liberaler. Legalisierung der Homosexualität (in Ö. 1971) Abschaffung der Prügelstrafe an Schulen (in Ö. 1974) Einführung der Fristenregelung für ungewollte Schwangerschaften (in Ö. 1975) um nur einige zu nennen. Zumindest die jungen Menschen träumten von einer Zeit, in der Religionen und Nationalitäten ihre Bedeutung verlieren würden. Keine Kriege mehr stattfinden, alle Menschen genügend zu essen haben und die Ausgaben für Rüstung zurück gehen würden.
Was wir im Moment zur Kenntnis nehmen müssen, ist das Zurückschrauben all dieser Utopien, weil die Menschen meinen, dass es sich um unerfüllbare Träumereien handelt und es geradezu chic geworden ist, sich als Pessimist zu bekennen. Gemäß einer Studie des IWF rangiert Österreich, gemessen an der Kaufkraft im Jahr 2017, an 16. Stelle. (Deutschland auf Platz 21). Innerhalb der EU lag Österreich im Jahr 2017 auf Platz 4.
Ich weiß schon, dass solche Rankings kein Maßstab für den Wohlstand einzelner Bürger sind und die Schere zwischen Arm und Reich weit auseinanderklafft, aber einen Hinweis darauf, dass die Voraussetzungen im Moment nicht so ganz schlecht sein können, scheinen solche Daten doch zu geben. Warum also versucht man beständig, uns einzureden, dass wir Kürzungen im Sozialbereich hinnehmen müssen? Mindestsicherung, Notstandshilfe, Gesundheitssystem, Mietenerhöhung, Reduktion der Deutschkurse, Arbeitszeitregelungen, Familienbeihilfen usw.
Warum müssen in ganz Europa die Ausgaben für Militär und Exekutive erhöht werden, wenn wir doch ganz gewiss keine Kriege führen wollen? Warum können sich Menschen das Heizen ihrer Wohnungen nicht mehr leisten? Warum können Familien von ihrem Arbeitseinkommen nicht mehr leben und warum leben so viele Pensionisten am Rande der Armutsgrenze?
Gleichzeitig werden die Konzerne reicher, versteuern immer weniger ihrer Gewinne in jenen Ländern in denen diese verdient werden. Nach wie vor werden Waren und lebende Tiere aus Steuergründen durch halb Europa gekarrt. Nach wie vor werden Gewinne aus kurzfristigen Devisentransaktionen nicht besteuert, obwohl seit den 70er Jahren darum gestritten wird und niemand die Wirksamkeit solcher Maßnahmen bestreitet.
Sind das tatsächlich alles nur lächerliche Utopien, die unerfüllt bleiben müssen?
Ich glaube, wir werden wieder Präsidenten wählen müssen, die glaubwürdig sind. Wir brauchen Regierungen, die nicht ihre Kommunikation kontrollieren, sondern ihre Arbeit. Medien, die nicht von Interessensvertretungen finanziert werden. Banken, die ihren Erfolg nicht an der Zahl der Vertragsabschlüsse messen und Konzernchefs, die mehr können, als die Zahl der Mitarbeiter zu reduzieren um ihre Boni zu erhöhen.
Wo wir dabei anfangen sollten? Bei der Erziehung junger Menschen. Und dabei meine ich gewiss nicht, dass wir mehr Frühaufsteher brauchen. Eher schon benötigen wir ausgeschlafene, taffe Leute, die sich was zutrauen und Verantwortung, für sich und für andere, übernehmen. Ziel muss es wohl sein, Schüler nicht zum sturen Lernen, sondern zum Nachdenken und Handeln zu erziehen.
Wahrscheinlich wären dann nicht mehr zwei Drittel der österr. Zeitungen gratis an den U-Bahn-Stationen zu haben, Erziehung müsste im Wesentlichen da stattfinden, wo sie hingehört, nämlich im Elternhaus. Die Lehrer könnten wieder tun, was in den Lehrplänen ganz vorne steht, nämlich zu jedem Gegenstand auch politische und soziale Kompetenzen vermitteln.
Und hören wir auf uns einzureden, der gegenwärtige Zustand der Gesellschaft hätte so gar nichts mit Bildung und der daraus resultierenden Lebenseinstellung zu tun. Es hilft nichts, alle Schuld einer beliebigen politischen Kaste zu geben und einfach einmal „die anderen“ zu wählen. Demokratie braucht Bildung, Diktaturen fürchten sie. Weil Demokratie ein politisches System ist, das gelernt werden muss und kompetente Beteiligung benötigt, die eben auch mit Bildung und Verstehen zu tun hat.