Ich weiß, dass ich mich mit diesem Beitrag auf ein heikles Thema einlasse, aber ich höre und lese (auch auf dieser Seite) in letzter Zeit öfter, dass zu viel Wissen ja vielleicht schadet, dass theoretisches Wissen völlig wertlos sei und schlimmstenfalls verhindere, dass der Mensch zur Herzensbildung befähigt wäre. Als jemand, der ein bisschen stolz auf seine Bibliothek ist, habe ich dazu natürlich eine andere Meinung, aber ich würde hier ganz gerne die unterschiedlichen Standpunkte diskutieren. Wozu Bildung? Was erwarten wir, wenn wir nach Bildung streben und woher bekommen wir sie? Sind Schule oder Universität dafür noch geeignete Orte?

Vorweg glaube man mir, dass ich Menschen nicht nach dem Grad ihrer Ausbildung oder der Anzahl der Titel beurteile. Wobei es ja komisch genug ist, dass solches erwähnt werden muss. Und natürlich weiß ich, dass nicht alle Menschen studieren sollen, wollen, oder können und es zahlreiche andere Quellen gibt, aus denen man Informationen, auch Bildung und möglicherweise Herzensbildung beziehen kann. Mich interessiert, was uns Menschen antreibt, mehr von der Welt zu erfahren, sie zu entdecken und zu verstehen. Warum Menschen für den Erwerb solchen Wissens oft erhebliche Mühen auf sich nehmen und dafür auf manche mögliche Annehmlichkeit in ihrem Leben freiwillig verzichten. Treibt uns die Erwartung, einen besser bezahlten Job zu bekommen? Geht es um soziale Anerkennung? Machen wir das nur für uns?

Lassen wir die Frage nach dem Einkommen einmal außer Acht, zumal das heutzutage auch kaum mehr garantiert ist. Lassen wir auch beiseite, dass jemand vom Elternhaus dazu genötigt wird, einen bestimmten Abschluss zu erreichen. Was ist aus dem humboldtschen Bildungsideal geworden, dessen Ziel es war, autonome Individuen und Weltbürger hervorzubringen?

Wir hören immer wieder die Hiobsbotschaften vom sinkenden Leistungsniveau an den Schulen, von Orientierungslosigkeit und sogar von funktionalem Analphabetentum. Wir hören, dass dies für unsere Gesellschaft zum Problem werden kann. Aber wie lauten die ernst zu nehmenden Ratschläge an junge Menschen?

Ich selber habe Architektur studiert und war damals, wie heute, davon überzeugt, dass dieses Studium sehr viel mit Mensch-Sein zu tun hat. Mit der Art wie wir leben, oder leben wollen. Mit Psychologie, mit den sozialen Gegebenheiten unter denen eine bestimmte Architektur entsteht, mit den Techniken des Bauens und der Künstler und vielem mehr. Wenn ich durch eine der vielen schönen Städte Europas spaziere und die Baustile, vielleicht auch die Bauherren oder Architekten benennen kann, mir vielleicht die Umstände vergegenwärtige, unter denen das alles geschaffen wurde, dann bin ich gelegentlich dankbar für das was ich gelernt habe und denke, dass jemand der all das nicht weiß, wahrscheinlich ein ganz anderes Stadtbild zu sehen bekommt.

Wenn jemand Gärtner oder Landwirt ist, geht er dann nicht mit einem viel weiteren Blickwinkel über eine Wiese am Waldrand? Ist das Erlebnis eines Waldspazierganges nicht eindrucksvoller, wenn man die Vogelstimmen die zu hören sind, einer Vogelart zuordnen kann? Von wie vielen Bäumen kennen wir die Namen und ist ein Wald weniger beeindruckend, wenn man die Namen der Pflanzen kennt?

Warum interessieren wir uns bei einer Bootsfahrt am Traunsee für die Tiefe des Sees, oder die Arten der Fische, die darin vorkommen? Das ist für das Erlebnis des blauen Sees mit seiner Bergkulisse doch eigentlich uninteressant. Wenn jemand in einer Bank arbeitet, oder selbst Aktien besitzt, wird er mit großer Aufmerksamkeit die Wirtschaftsseiten der Zeitung lesen, die für die meisten anderen Leser vermutlich belanglos sind. Und kann er dann aus einem Fallen oder Steigen der Kurse nicht mehr herauslesen, als wir Unkundigen?

Ich weiß natürlich auch, dass wir nicht auf allen Gebieten zum Fachmann werden können, aber ich glaube daran, dass der Blick auf die Welt mit jedem neuen Wissen und jeder Erfahrung reicher und vielfältiger wird. Deshalb glaube ich auch daran, dass so etwas wie das humboldtsche Bildungsideal noch nicht ganz ausgedient hat, aber nach 200 Jahren bedarf es wohl einer Adaptierung an heutige Gegebenheiten.

Deshalb aber alle gebildeten Menschen zu diskreditieren, ihnen tiefe Gefühlsempfindungen und Herzensbildung abzusprechen und sie allesamt der Weltverschwörung zu bezichtigen, halte ich für eine sehr gefährliche und kurzsichtige Argumentation. Bin gespannt auf die Postings und bedanke mich im Voraus dafür.

G. Novak

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