„Ja, wo sind wir hingeraten?“ Diese Frage hört man in letzter Zeit ziemlich häufig. In allen Alters- und Sozialschichten, aus allen parteipolitischen Richtungen. Dieser Seufzer bezieht sich dabei weniger auf die objektiv messbare Situation, sondern vielmehr auf die Art und Weise, wie diese Umstände wahrgenommen werden und wie darüber debattiert wird.
Ich weiß nicht, seit wie vielen Jahren Wirtschaftsfachleute vor den Auswirkungen eines entfesselten Neoliberalismus warnen, Soziologen das Auseinanderklaffen der Wohlstandsschere und die Folgen beschreiben und Bildungswissenschaftler Reformen beschwören. Seit Jahren, habe ich in Diskussionen die Frage gestellt: „Wie lange werden sich die Menschen das noch gefallen lassen?“
Ich habe unter Schülern und Studenten das dünne Büchlein von Stephane Hessel „Empört Euch“ empfohlen und verteilt (es kostete damals keine 3.- Euro), weil mich die Teilnahmslosigkeit gestört hat, mit der junge Menschen das politische Geschehen über sich ergehen ließen.
Als Antwort auf meine Apelle habe ich immer wieder gehört: „Den Menschen geht es zu gut, um sich aufzulehnen. Noch haben sie zu viel und daher Angst, dies zu verlieren.“ Jetzt nicht mehr?
Ich weiß nicht, was der eigentliche Auslöser war, aber seit einiger Zeit weht ein ziemlich rauer politischer Wind durchs Land und durch ganz Europa. Ich höre immer öfter den Satz: „Schlimmer kann es nicht werden.“ Immer mehr Menschen fühlen sich unverstanden, abgehängt und allein gelassen. Sie sind von ihren bisherigen Regierungen enttäuscht und in jedem Fall entschlossen, jetzt einmal „die Anderen“ zu wählen. Nicht weil die Wirtschaftsdaten schlechter sind, als vor zwei Jahren und auch nicht, weil sie von den rechtsradikalen Bewegungen eine konkrete Besserung erwarten, sondern weil sie missachtet und gedemütigt wurden und sich jetzt rächen. (So wurde mir das hier auf f+f kürzlich von einem User erklärt.)
Vielleicht waren es die Bilder vom September des vorigen Jahres, als tausende Menschen auf der ungarischen Autobahn in Richtung der österreichischen Grenze unterwegs waren und (Gott sei Dank!) kein seriöser Politiker bereit war, Waffen gegen diese Flüchtlinge in Stellung zu bringen. Vielleicht war es auch das medienwirksame Gejammer einer wahrlich unfähigen Innenministerin, die im Sommer davor nicht in der Lage war, 5000 Flüchtlinge in Traiskirchen zu versorgen und die Angelegenheit zum Weltuntergang stilisiert hat. Egal, die Gunst der Stunde wurde jedenfalls erkannt und genützt. Europa bekam Angst.
In Österreich gibt es eine politische Partei, die nur wenig Chancen hatte eine Mehrheit für sich zu gewinnen, weil sie es über Jahre hindurch nicht schaffte, sich vom ultrarechten Rand, von ewig gestrigen Holocaust-Leugnern abzugrenzen und sich davon glaubwürdig zu distanzieren. Man hat die Partei und ihre Wähler verächtlich gemacht und den Zutritt zur Macht verwehrt, weil zahlreiche ungeschriebene Regeln der Nachkriegspolitik verhöhnt und mit Füßen getreten wurden. Die Ausgrenzung war vielleicht ein Fehler, aber sie war berechtigt. Eine mögliche, vielleicht einzige Chance dieser Bewegung bestand darin, den Menschen Angst einzujagen. Jene unheilvolle Zukunftsangst, die sie glauben lässt, jetzt eben nichts mehr verlieren zu können, weil der Untergang nahe ist. Glauben also die Menschen in Österreich wirklich, dass es jetzt nicht mehr schlimmer werden kann?
Der politische und organisatorische Umgang mit dem Flüchtlingsproblem war sowohl auf der Ebene der EU, als auch auf der nationalen Ebene ein öffentlich zelebriertes Desaster und daran hat sich wenig geändert. Brüssel ist schwerfällig und man könnte meinen, dass jetzt nur vollzogen wird, was von Strache und Orban angeregt wurde. Aber die damaligen Ratschläge der europäischen Rechtsextremen waren menschenverachtend und verletzten zahlreiche nationale und internationale Rechtsvorschriften, die inzwischen, der Not gehorchend, eben mühevoll modifiziert wurden. Wer heute noch immer behauptet, die Regierungen würden Flüchtlinge einladen, der lebt wohl auf dem Mond. Aber die Propaganda der Rechtsnationalen lebt davon noch ganz gut und faselt weiter von geplanter „Umvolkung.“ (??!)
Wenn dann eine Umfrage zum Ergebnis kommt, dass mehr als die Hälfte aller Österreicher die Auswirkungen des Terrors als ihr gravierendstes Problem betrachten, frage ich mich schon, wer das den Leuten eingeredet hat und wem das wohl nützen könnte. Vielleicht sollte man eher darauf achten, was Herr Hofer bei seinen „Staatsbesuchen“ in den Visegrad-Staaten verspricht und warum er von einem Außenminister, der unter Strache Vizekanzler werden möchte, nicht schon längst zurück gepfiffen wurde.
Genaugenommen hat ein Sieg bei der Bundespräsidentenwahl eher geringe Auswirkungen auf unser Land. Für bedeutsamer halte ich die Signalwirkung, die davon ausgehen würde. Wir wären das erste Land Europas mit einem als rechtsradikal eingestuften Staatsoberhaupt und ich hielte einen Sieg Hofers nicht nur für den Beginn der endgültigen Blaufärbung unserer Heimat… Wahrscheinlich würden sich viele wundern, wie viele Anhänger diese Bewegung dann „schon immer hatte.“
Wenn dieser rechtsradikale Populismus nach einigen Jahren hoffentlich sein unrühmliches Ende gefunden hat, wird es wieder einmal keiner gewesen sein. So wie man gegenwärtig ja auch kaum noch Haider-Wähler ausfindig machen kann, die sich zur Mitverantwortung am Hypo-Desaster bekennen.
Was uns aber möglicherweise erhalten bleibt, ist die endgültige Abschaffung von Toleranz und Anstand, von Höflichkeit und Ehrlichkeit, Feminismus, Gerechtigkeit, Integration und Akzeptanz von Ausländern. Die Rückkehr der Rüpel- und Narrensprache die man jetzt als Befreiung feiert, wird nicht nur Spuren hinterlassen, sondern sowohl unser Land, als auch Europa nachhaltiger verändern, als uns allen lieb ist.
Dies ist eine ernstgemeinte Warnung: rechtsradikale Politfantasten in verantwortlichen Staatsfunktionen können verheerende Folgen für Ihr Wohlbefinden haben und die Wähler sollten sich fragen, ob ihre Not jetzt wirklich groß genug ist, um das gefährliche Experiment zu riskieren. Für mich steht zu viel auf dem Spiel, ich wähle Alexander van der Bellen.
g.novak