Müssen wir als Gesellschaft anders handeln als wir es als Einzelakteure tun? Diese Frage wird uns noch sehr lange beschäftigen – und ich beantworte sie mit einem klaren JA.
Im Mai des Jahres 2016 schrieb ich als Reaktion auf den Mord am Brunnenmarkt folgendes (ihr erinnert euch bestimmt, eine Frau wurden von einem abgelehnte Asylbewerber erschlagen):
abseits dieser unmittelbaren reaktion eines persönlich betroffenen, muss es eine reaktion der gesellschaft geben.
also von uns allen, die nicht opfer oder angehörige sind.
eine reaktion, die mit abstand die fakten beurteilt und ohne grosse emotionalität die richtigen schlüsse zieht und dementsprechende handlungen setzt.
und ich erwarte mir eigentlich, dass die gesellschaft als solches mich als unmittelbar betroffenen davon abhält, meine racheemotionen auch auszuleben und dafür sorgt, dass der mit mühe erarbeitete zivilisationsprozess nicht subjektiven rachegelüsten gleich wieder zum opfer fällt.
also dafür sorgt, dass exekutive und justiz unbeeinflusst ihre arbeit versehen und dafür sorgt, dass dem gesetz genüge getan wird.
auch wenn mir als opfer das nicht recht wäre.
Auf den Punkt gebracht meine ich damit: Es gibt einen Unterschied in der Beurteilung einer Causa abhängig davon, ob ich diese aus unmittelbarer individueller Betroffenheit, oder in einem gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang beurteile. Es ist ein Unterschied, ob ein Einzelner das Bedürfnis verspürt, Rache auszuüben – oder ob eine Gesellschaft, also die Gemeinschaft, Rache üben möchte.
Daraus hat sich im Lauf der Zeit eine immerwährend schwellende Diskussion mit @Silvia Jelincic ergeben, die nun in diesem Blog ihren Ausdruck findet.
Sozialwissenschaftlich spricht man vom Mikro/MakroProblem.
Der moderne Mensch muss in der Spannung zwischen vielfach inkonsistenten, sowohl verinnerlichten als auch institutionellen Verhaltenserwartungen leben.
Da dies aber keine rein theoretische Diskussion unter Sozialwissenschaftern ist und auch nicht werden soll, werde ich versuchen, die Problematik anhand einfacher und leicht nachvollziehbarer Beispiele aufzuzeigen.
Ich zb bin „Hardcore“-Raucher.
Ich bin also mit der derzeitige Regelung der „Raucherabteile“ in Lokalen zufrieden. Ich gehe sogar soweit, dass ich Lokale mit einem strikten Rauchverbot meide wo ich kann.
Diese Regelung endet am 1. Mai 2018.
D.h. für mich, dass sich entweder mein Freizeitverhalten, oder mein Rauchverhalten in Zukunft ändern werden.
Die Einführung eines strikten Rauchverbotes in der Gastronomie steht nun in den Koalitionsverhandlungen angeblich wieder zur Disposition.
So gesehen müsste ich aus meiner ganz persönlichen Sicht die Daumen halten, dass das Rauchverbot nicht eingeführt wird.
Das steht natürlich deutlich im Widerspruch zu den vielen Nichtrauchern, die sich durch Raucher belästigt fühlen und schon sehnsüchtig und erfreut den 1. Mai herbeisehnen.
Und jetzt versuche ich meinen persönlichen Standpunkt in einen gesamtgesellschaftlichen zu transformieren.
Am Beispiel Irland – Rauchverbot seit 2004 – zeigt sich:
Eine irisch-britische Untersuchung hat im vergangenen Jahr festgestellt, dass das Rauchverbot in Irland bereits 3700 Menschenleben gerettet hat. "Unsere Studie zeigt, dass der Rückgang der Sterblichkeit vor allem durch die Reduzierung des Passivrauchens zustande kam", sagt Professor Luke Clancy, der an dem Projekt mitgearbeitet hatte. Die Zahl der Schlaganfälle ging um 32 Prozent nach unten, seit der Glimmstengel aus den Pubs verbannt wurde.
In Umfragen liegt die Zustimmung für rauchfreie Pubs regelmäßig bei weit über 70 Prozent. "Tabak ist der tödlichste Konsumartikel, der je auf den Markt gebracht wurde", fast Pat Doorley, Vorsitzender des irischen Royal College of Physicians - einer Art Ärztekammer - die Stimmung zusammen.
Selbst die Gastwirte, die jahrelang das Kneipensterben in Irland auf das Rauchverbot zu schieben suchten, sind inzwischen milder gestimmt. "Wir wollen die Raucher nicht im Pub zurückhaben", sagt der Präsident der irischen Wirtevereinigung VFI, Gerry Rafter, im Gespräch mit der Nachrichtenagentur dpa.
Die sogenannte Tobacco Control Scale, die Teil der Tabakpräventionstabelle der Europäischen Krebsliga ist, bewertet Tabakpräventionsmaßnahmen auf staatlicher Ebene. Hier nimmt Österreich unter allen 32 europäischen Nationen den letzten Tabellenplatz ein.
Es dürfte auch unter Rauchern unwidersprochen sein, dass der Tabakgenuss und der damit verbundenen Schadstoffe eine der Hauptursachen für diverse schwerwiegende Erkrankungen ist. Lunge, Herz-Kreislauf-System oder Schlaganfälle können unmittelbare Ursachen sein.
Das bedingt natürlich auch grosse volkswirtschaftliche Kosten – vor allem im Gesundheitssystem.
Und zwar unabhängig von all dem persönlichen Leid von Betroffenen und Angehörigen.
Auf Grund der geschilderten Fakten stellt sich nun für mich die Frage, ob ich für oder gegen das Rauchverbot sein soll.
Soll ich meine persönliches Suchtverhalten über das grosse Ganze stellen?
Oder bin ich in der Lage, gesellschaftlich zu denken und zu akzeptieren, dass ich mich meinem Verhalten nicht nur mich selbst schädige, sondern sowohl mein unmittelbares Umfeld, als auch die Gesellschaft im Gesamten.
Nächstes Beispiel:
Am 1. Mai 1974 wurde in Österreich das Tempolimit eingeführt.
Vor der Einführung von Tempo 130 hatte es außerhalb des Ortsgebietes weder auf Autobahnen noch auf Freilandstraßen ein generelles Tempolimit gegeben.
Jetzt gehörte ich zu jenen Zeitgenossen, die sich nur durch die technischen Gegebenheit und die leistungsfähigkeit des jeweiligen Fahrzeuges in ihrem Drang nach Höchstgeschwindigkeit einschränken ließen.
In ein Auto mit weniger als 200 PS bin ich gar nicht erst eingestiegen.
Das hat im Laufe der Jahre auch viel Geld in Form von Strafzahlungen gekostet und ging bis zum temporären Entzug des Führerscheins.
Ich sollte also ein vehementer Gegner von Geschwindigkeitsbeschränkungen sein.
Bin ich nicht.
Das nunmehr seit 44 Jahren geltende Tempolimit wird wohl nur mehr von einigen wenigen Unbelehrbaren in Frage gestellt.
Ich kann mich aber noch sehr gut über die allgemeine Aufregung über diese „Beschränkung der Freiheit“ erinnern.
Die unbestreitbaren Fakten beweisen die Richtigkeit der Entscheidung im Sinne der Allgemeinheit gegenüber der (meiner) individuellen Meinung ein Recht auf unbeschränkte Geschwindigkeit zu haben.
Die Fakten:
Es gab im Jahr 1974 2.499 Verkehrstote, der Fahrzeugbestand lag bei 2,65 Millionen.
Anzahl der Verkehrstoten im Jahr 2016 427. Zum Stichtag 31.12.2016 waren in Österreich laut Statistik Austria rund 6,65 Mio. Kraftfahrzeuge zum Verkehr zugelassen,
Das ist natürlich auch im Zusammenhang mit der im Sommer 1976 eingeführten Gurtenpflicht zu sehen, wobei erst seit Juli 1984 für eine Missachtung dieser Vorschrift auch eine Strafe vorgesehen ist. Auch da war die Aufregung über diese „Einschränkung der persönlichen Freiheit“ riesengross.
Nächstes Beispiel.
Und hier wird es schon ein wenig komplizierter.
Es geht um den „Fall Pierer“.
Der KTM-Boss hat sich durch – legale aber dubiose – Steuertricks eine erkleckliche Summe an Abgaben erspart.
Jetzt ist davon auszugehen, dass die kolportiere Summe von € 500.000,- Steuerersparnis im Verhältnis zu den Gesamtsteuereinnahmen keine wesentliche ist und somit nicht ins Gewicht fällt.
Aber ebenso ist davon auszugehen, dass Pierer nicht der Einzige mit derartigen Steuersparmodellen ist und der dadurch entallende Gesamtbetrag durchaus relevante Grösse erreicht.
Das heisst, dass der Rest der Bevölkerung, denen diese Möglichkeiten der Steuervermeidung nicht offen stehen, einen grösseren Anteil an Abgaben leisten müssen, um die Finanzierung der notwendigen Staatsausgaben sicherzustellen.
Ähnlich verhält es sich mit den, durch diverse Leaks publik gewordenen Steuerfluchtmöglichkeiten in alle möglichen Steueroasen dieser Welt.
Auch wenn es sich dabei teilweise um „legale“ Fluchtwege handelt, bleibt die Frage nach der Rechtmässigkeit offen, wenn damit die Gesellschaft und damit der Grossteil ihrer Mitglieder geschädigt werden.
Legal bedeutet nämlich etwas anderes als Legitim.
Und um es für die österreichischen Fälle zu präzisieren:
Im österreichischen Aktiengesetz ist festgeschrieben – Der Vorstand hat zum Wohle des Unternehmens unter Berücksichtigung der Aktionäre, der Arbeitnehmer und der Öffentlichkeit zu handeln.
Inwieweit darf also eine Person individuelle Bedürfnisse, zb wenig Steuern zu bezahlen, Suchtbefriedigung oder die Lust an der Geschwindigkeit, über Notwendigkeiten der Gemeinschaft stellen? Und inwieweit dürfen Mächtige oder Lobbyisten versuchen die Legislative zu beeinflussen?
Womit wir wieder beim Ausgangspunkt wären.
Es ist verständlich, wenn von Gewaltverbrechen unmittelbar Betroffene oder deren engste Angehörige und Freunde in einer emotionalen Ausnahmesituation ihren persönlichen Emotionen nachgeben und entgegen bestehende Gesetze auch zur Selbstjustiz tendieren.
Aber ebenso zwingend notwendig ist es Aufgabe von nicht unmittelbar Betroffenen sich nicht von diesen Emotionen leiten zu lassen und sicher zu stellen, dass eine objektive Beurteilung der Fakten erfolgt und die Sachlage der bestehenden Gesetzeslage entsprechend beurteilt wird.
Das heisst auch konkret, dass ich, sollte ich mich in einer derartigen emotionellen Ausnahmesituation befinden, von der mich umgebenden Gesellschaft daran gehindert werden muss, entgegen allen geltende Regeln zu handeln.
Ganz offensichtlich ist es aber für viele Menschen nicht sehr leicht, gefangen in Emotionen und bestimmt von persönlichen Bedürfnissen, den Blick über den eigenen Schrebergarten hinaus zu richten.
Das Beispiel Tempolimit zeigt aber sehr deutlich, dass der Zeitfaktor und positive Entwicklungen auch bei anfänglich ungeliebten Regelungen letztendlich zu hoher Akzeptanz führen.
Auch bei jenen, die ursprünglich den Weltuntergang bevorstehend sahen.
Das immerhin gibt zur Hoffnung Anlass.
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