Berlin Bashing - warum die Leute trotzdem kommen

Über Jahrzehnte hat sich wenig daran geändert: Berlin als Idealzustand, als Ziel derjenigen, die in ihren Kleinstädten und Dörfern nicht so konnten, wie sie eigentlich wollten. Das war in den 1920er-Jahren genauso wie in der DDR, galt für Heranwachsende in der alten Bundesrepublik gleichermaßen wie für meine Generation, die erst nach dem Mauerfall aufwuchs. Aber wie sieht es heute aus?

Verlockend war (und ist es vielleicht noch?) Berlin vor allem immer deswegen, weil diejenigen, die auch irgendwie anders waren, sich schon dort befanden. Die Höhe der Einwohnerzahl und die Heterogenität versprach, dass man da schon irgendjemanden finden würde, mit dem man sich vertrug, der ähnlich tickte wie man selbst und dem man sich nicht erklären musste. In der sogenannten Provinz war das für viele die Ausnahme. Wer nicht in die Freiwillige Feuerwehr oder in den Handballverein wollte, dem blieben bestenfalls noch die obligatorischen Metal-Typen. Und wenn man die nicht wollte (oder umgekehrt), dann hatte man ein Problem. So eine Dorfjugend kann eine ziemlich einsame Sache sein, oder sie war es zumindest im Prä-Internet-Zeitalter. Berlin war für solche Fälle immer ein Versprechen, für die Zeit nach dem Abitur oder der Ausbildung. Natürlich sind nicht letztlich nicht alle wirklich in Berlin gelandet, manche haben es versucht und nicht das vorgefunden, was sie erwarteten. Andere sind dann doch lieber zum Informatikstudium nach Kiel gegangen.

Heute ist das mit der Einsamkeit so eine Sache. Halbwegs nutzbares Internet gibt es mittlerweile im letzten Kaff, im Hintertaunus genauso wie in Vorpommern. Facebookgruppen und Blogs geben sozialen Randgruppen eine Heimat – und zwar nicht nur Bürgerwehren und Lies!-Aktivisten, sondern eben auch allen anderen Jugendlichen und Erwachsenen, die sich für Themen interessieren, die ihnen ihre anfassbare Umgebung nicht nahelegt. Gleichzeitig werden Online-Kontakte in vielen Fällen als unzureichend wahrgenommen. Schon bei den Vorläufern dessen, was heute unter „Social Media“ läuft, den Bulletin-Boards und IRC-Channels, war es nicht unüblich, sich nach monatelangem schriftlichen Austausch in den Zug zu setzen und zwei oder drei Stunden zu fahren, um endlich auch mal unmittelbar kommunizieren zu können. Die Motivation dahinter war nicht etwa romantisch, sondern bestand allein in der Faszination darüber, dass es andere Menschen gibt, die einen interessieren und die sich auch noch für einen selbst interessieren. Kurz: Die Möglichkeit, ähnliche denkende Menschen online zu finden und mit ein bisschen Aufwand physisch real kennenzulernen, federt heute vielleicht einen Teil der adoleszenten Einsamkeit ab. Die Erlösung, für die Berlin lange Zeit stand, ist folglich nicht mehr ganz so dringend. Trotzdem besteht die Anziehungskraft weiterhin.

Dies liegt unter anderem daran, dass Berlin geografisch praktisch gelegen ist und deshalb die statistische Wahrscheinlichkeit hoch ist, dass spannende Online- oder Echtwelt-Menschen entweder auf dem Weg nach Berlin sind oder ihren Lebensmittelpunkt dort bereits haben. Die Stadt ist auch ohne Großflughafen gut erreichbar, von Nord und Süd, aus den USA, Schweden oder Australien. Zur günstigen Lage hinzu kommt das Image, dass es in Berlin angeblich nichts gibt, was es nicht gibt. Wenn sich die eigenen Eigenheiten nicht nur im Charakter manifestieren, sondern auch nach außen getragen werden, dann verspricht Berlin nach wie vor mehr Toleranz als die meisten anderen deutschen Städte. Auch ist weiterhin nicht jeder Mensch internetaffin und selbst die, die es sind, sind nicht automatisch gute digitale Netzwerker. Berlin bietet sich deshalb als Anlaufstelle für alle an, die es und sich lieber gleich richtig erleben.

Neben der Vielfalt seiner Einwohner lockt Berlin auch mit Raum – ideell und materiell. Anzunehmen, dass es überhaupt niemanden juckte, welche Identität in der Öffentlichkeit zur Schau gestellt wird, wäre naiv. Berlin bietet ausreichend unterschiedliche Clubs, Veranstaltungen und Subkulturen, in denen das präferierte Geschlecht, die eigene sexuelle Ausrichtung oder einfach nur der abwegige Musikgeschmack ausgelebt werden können. Diese Räume ermöglichen es, dass experimentiert wird, dass Kreativität sich entwickeln kann und so etwas wie Avantgarde entsteht. Aber nicht nur Innovatoren mit Potenzial zur Produktivität profitieren von diesem Umfeld – auch dem einzelnen Sonderling, der bisher nirgendwo so richtig reinpasste, bietet die Vielfalt der Möglichkeiten eine Chance, sichtbar zu werden.

Förderlich für die ideellen Freiräume ist die hohe Dynamik, die in ihnen herrscht. Wer in Berlin ankommt, hat häufig Jahre und Jahrzehnte unausgelebter Bedürfnisse im Gepäck. Zusammen mit den ganzen unterschiedlichen Backgrounds, Stilen und Erwartungen der restlichen Alt- und Neuberliner, den Ambitionierten und den Slackern, denen, die auf der Suche nach was auch immer sind und denen, die bereits das verkörpern, was sich Andere für sich noch wünschen, entsteht ein menschlicher Remix: Pluralität in ihrer besten Form.

Was materielle Räume angeht, punktet Berlin gegenüber anderen Städten nach wie vor mit der Verfügbarkeit. Trotz voranschreitender Gentrifizierung sind die Mieten für Wohnungen, Büros und Veranstaltungsorte vergleichsweise günstig. In Hamburg, Frankfurt und München etwa ist es bei kleinem oder unsicherem Budget quasi unmöglich, geeigneten Raum zu finden. In Berlin gibt es neben den über die ganze Stadt verteilten Nischen auch immer noch zentrale Problemviertel, in denen es sich günstig leben lässt.

Steigende Mieten werden aber auch für die Berliner Sub- und Gegenkulturen langfristig zum Problem werden. Zwar steht bei Gentrifizierungsdebatten das Wohnen für alle im Mittelpunkt, doch sind auch Gastronomie, kulturelle Einrichtungen, Ateliers und Studios massiv betroffen.

Ein weiteres Problem ist die unvermeidliche Konformität, die sich irgendwann einstellt, wenn aus Nischenexistenzen Massen werden. Ab dem noch nicht genau bestimmten Moment X verabschie-det sich die Flexibilität, mit der die eigene Identität weiterentwickelt, neuerfunden oder durchdacht wird, stattdessen wird es bequem, sich unter seinesgleichen einzurichten. Originalität und Masse schließen einander aus, wie etwa der Hipstertrend der letzten Jahre oder zahlreiche Fashion-/Lifestyle/Musik-Blogs im Internet zeigen (um wieder den Bogen zur digitalen Welt zu schlagen). Gleichzeitig ist die Diskussion, wer nun eigentlich real, authentisch, kein fake ist, eine, die ziem-lich überflüssig ist und wenig Freude bereitet.

Einfache Lösungen gibt es weder für den Erhalt niedriger Mieten, noch für den der Vielfalt. Letztere wird immerhin durch die unterschiedlichen kulturellen Angebote gepflegt, wie sie in Berlin nachweislich vorhanden sind. Ein Beispiel für einen bewussten Umgang mit der positiv hybriden Kultur, für die Berlin steht, ist das Konzept, das sich seit 2015 über die Orbanism-Veranstaltungen zu etablieren beginnt. Dabei handelt es sich um verschiedene Formate, wie etwa das vom Hauptstadtkulturfonds geförderte Remix-Festival „Falling in Love“, bei dem sich über ein Wochenende verteilt Lesungen mit Partys mit den Präsentationen kreativer und kommerzieller Kooperationen abwechselten oder der Orbanism Space auf der Frankfurter Buchmesse, der digitale Themen und Menschen in die physische Realität überführte: Immer werden Nichtberliner und Berliner, RL- und Netzmenschen, Netzkultur und Literatur, kreative und gesellschaftliche Fragestellungen miteinander in ungewohnten Konstellationen verbunden, geremixt.

In ihrer Heterogenität und der Überschreitung von Grenzen, was Themen, Formate, online und offline angeht, erinnern diese Formate performativ an die Sonderstellung, die das kulturelle Berlin bisher einnimmt und nach Ansicht der Veranstalter weiter einnehmen sollte. Wenn etwa Konzeptkünstler auf Social Media-Experten und Geflüchtete auf Ebook-Autoren treffen, liefert das neue Impulse und zeigt, dass Inhalte anders sein können: anders als dominierende Trends und auch anders als die häufig festgefahrenen und vorhersehbaren Diskussionen im Netz.

Obwohl sich Orbanism stark am Berliner Image orientiert – anders sein, vielfältig sein, offen sein – hat es mit jener Nostalgie, die sich das Bowie-Berlin oder die Technokultur zurückwünscht, wenig zu tun. Zu prägnant und verheißungsvoll sind die Veränderungen, die es immer wieder aufs Neue gibt. Die Überschneidung von digitaler Kultur mit physisch realen Räumen und greifbaren Projekten etwa lebt von Möglichkeiten, die es vor zwei Jahrzehnten noch nicht gab. Inhalte und Botschaften sind nicht mehr zentral, sondern global abrufbar. Film, Musik, Design lassen sich nicht nur einfacher herstellen als in den 1970ern/80ern/90ern, sondern wesentlich besser verbreiten. Das Konzept ist Fortsetzung, Weiterentwicklung und nicht Vintage auch, weil es nicht oder nur im Ausnahmefall die Akteure von einst nach vorne stellt.

Berlin und das Internet haben gemeinsam, dass beides Räume sind, aus und von denen man lernen kann: Offenheit gegenüber Fremdem und Ungewohntem ist dabei zentral. Gerade in Zeiten, in denen Migration auf der diskursiven Tagesordnung weit oben steht, ist Neugierde meist produktiver als Abschottung, weil sie das Potenzial hat, neue Kontakte zu schaffen und Hilfsbereitschaft entstehen zu lassen. Abschottung hingegen verhindert bereits im Voraus, dass Neues und daraus vielleicht ein Lösungsweg für ein bekanntes Problem entsteht. Nicht nur für künstlerische Projekte ist Offenheit hilfreich, sie führt allgemein zu mehr Lebensqualität, etwa, wenn man, ohne sich unpassend gekleidet zu fühlen, den Gang zum Späti im Bademantel oder die U-Bahn-Fahrt im Glitzerfummel machen kann.

Anzunehmen, alle Probleme ließen sich durch einen wilden Remix der Kulturen beheben, wäre wenig realistisch und würde den unterschiedlichen Protagonisten kaum gerecht werden, da Heterogenität auch heißt, dass es Zurückhaltung geben kann und darf, dennoch ist Offenheit ein wichtiges Werkzeug für ein halbwegs funktionierendes Miteinander und darf nicht durch die gegenwärtige Panikmache verloren gehen. Eine offene Kultur lehrt, wie sich Konflikte durch Lernen, Verstehen und Empathie lösen lassen.

Berlin zeigt, wie eine Stadt trotz und gerade mit ein wenig zugelassener oder gar kalkulierter Unordnung funktioniert. Solange das Grundvertrauen vorhanden ist, sind Kontrollverlust und Spontaneität keine allzu großen Risiken – beide sind nicht nur für die Umsetzung kreativer Impulse wichtig, sondern auch für mehr Menschlichkeit.

„Man kann sich nicht blind darauf verlassen, dass offene Kultur als Prinzip plausibel bleibt. Für diese Erfahrung braucht es neue performative Räume“, erklärt Orbanism-Veranstalterin Christiane Frohmann. Die passenden Infrastrukturen für Offenheit gibt es allerdings nicht geschenkt. Der Kampf sowohl um reale Räume, als auch um Plattformen im Netz, die einen Austausch ohne übermäßige Trollerei, Spam oder gar Bedrohungen ermöglichen, kann nicht aus den Augen gelassen werden. In einem politischen und ökonomischen System, das auf Effizienz ausgerichtet ist, versprechen Experimentierfelder und Plätze zum Abhängen wenig unmittelbaren Gewinn. Nur Engagement für Festivals, Clubs, Netzwerke und natürlich Wohnraum, den sich auch Künstler, Arbeitslose, Studierende und Geflüchtete leisten können, kann für Entstehung und Erhalt ebendieser Notwendigkeiten sorgen.

Wer das, was Berlin anziehend macht – eine offene Kultur, ein lebenswertes Umfeld und ein möglichst sicheres Miteinander – möchte, muss sich dafür einsetzen. In Berlin, im Netz und an allen anderen Orten.

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fischundfleisch bewertete diesen Eintrag 14.03.2016 22:07:02

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