Im Alltag sind es die meisten Menschen gewohnt, eigene Bedürfnisse zu verstecken. Bedürfnisse zeigen heißt Schwäche zugeben; man zeigt dabei nur die aktuell verwundbarste Stelle. So und auf ähnliche Art und Weise wurde es zum Mantra erhoben, sich stets souverän zu zeigen durch das Leugnen und Verbergen eigener Bedürfnisse. Stark, indem man sie verbirgt hinter einer Mauer aus verschiedensten Strategien der Umwegkommunikation. Natürlich schwindet dabei nicht nur das Bewusstsein für sich selbst. Es leidet auch mit Zunahme der Perfektion in dieser scheinbar asketischen Lebensweise die Fähigkeit, Empathie für die hinter dem Handeln der Mitmenschen stehenden individuell gesehenen Notwendigkeiten zu erkennen. „Das Leben ist kein Ponnyhof“.
Eine der beliebtesten Formen, sich bedürfnisfrei zu zeigen, ist es, einfach äußere Zwänge und moralische Vorstellungen der Gesellschaft in den Vordergrund zu stellen als Begründung für Forderungen, eine gerade erwünschte Handlung zu setzen. „Du hast aber schon davon gehört, dass in einem ehelichen Haushalt Halbe-Halbe zu gelten hat.“ wird da etwa der Partner oder die Partnerin angeschnauzt, wenn man beim Nachhausekommen von einem echt nervenden Arbeitstag merkt, dass der Mistkübel übergeht und die Küche aussieht, als hätte gerade eine Granate eingeschlagen. „Leg endlich dieses blöde Smartphone weg, Du bist ja schon süchtig“ wird das Gegenüber kritisiert, wenn es einfach unerträglich wurde, dass man sich selbst nicht mehr wahrgenommen fühlt. „Das ist bei uns in der Familie nun mal so, dass wir am Heiligen Abend bei Mama feiern“ wird rasch jede Beschäftigung mit den Bedürfnissen abgestellt und auf ungeschriebenes Gesetz, das es nicht in Frage zu stellen gilt, im Keim erstickt. Scheinbar. Denn natürlich stecken in all diesen Beispielen unterschiedliche individuelle Bedürfnisse und daraus resultierende Wünsche in den betroffenen Personen. Und diese haben enorme Kraft, gelten doch die Gefühle, welche bei all diesen an der Oberfläche getätigten Aussagen zu Tage treten werden, als die Kinder der Bedürfnisse.
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Nun, was sind diese Bedürfnisse überhaupt, welche da so eine Bedeutung haben im Miteinander, selbst wenn man ihnen diese nicht zugestehen will? Eine der plakativsten Erklärungen ist jene der Maslow’sche Bedürfnispyramide (siehe Abbildung).
In ihr sind die Grundbedürfnisse der Menschen eingeteilt in aufeinander aufsetzende Ebenen, fast wie bei einem Kartenhaus. Und sehr ähnlich funktionieren sie auch: Möchte man zur Ebene der Selbstverwirklichung gelangen, so ist es erforderlich, die darunterliegenden Ebenen solide aufgebaut zu haben: Ohne ausreichend Trinkwasser, Nahrung und Sex als Beispiele für körperliche Bedürfnisse wird es etwa schwer gelingen, empfangene Anerkennung anzunehmen: da wirkt jede noch so ehrlich gemeinte Bewunderung des Partners oder der Partnerin eher sogar wie eine Verhöhnung, wenn zugleich das Sexleben, zu welchem es den Wunsch auf mehr Lebendigkeit gibt, zu Tode geschwiegen wird. Umgekehrt kann es, ebenfalls ähnlich dem Vorgang des Errichtens eines Kartenhauses, zu verstärkt auftretenden Bedürfnissen näher der Basis kommen, wenn Störungen in Richtung der Selbstverwirklichung drohen oder erwartet werden. Traumatisierende Erlebnisse einer empfundenen sozialen Ungerechtigkeit beispielsweise, die zu einem komplizierten Verhältnis zum eigenen Gerechtigkeitsempfinden führen können, drücken sich oftmals in erhöhten Symptomen des Bedürfnisses nach Sicherheit aus. Oder es kann empfundene geringe Wertschätzung durch das soziale Umfeld zu überzogenem Schlafbedürfnis oder Essstörungen führen. Wie auch der Kartenhauserbauer, der nicht genügend Vertrauen in die Tragfähigkeit der bereits errichteten Ebenen hat, um die nächste Etage zu errichten, stattdessen wohl lieber eine näher der Basis liegende Etage überdimensional ausbauen wird. Anstelle einer Ausarbeitung von Strategien zur Befriedigung aktuell als drängend empfundenen Bedürfnissen kommt es zu unbefriedigenden Ersatzlösungen auf vollkommen anderen Ebenen.
Wie kommt da wieder Schwung rein? Wie kann man es schaffen, die Dinge wieder an der Wurzel zu packen und dort Lösungen zu finden, wie sie aktuell tatsächlich gewünscht sind, ja sogar gebraucht werden? Es klingt vollkommen banal, wenn man erkennt, wie wenig es dazu eigentlich braucht:
- Ja, man darf Bedürfnisse haben. Es ist ein Zeichen von Stärke, sich das zuzugestehen. Und ein Zeichen von Menschlichkeit, auch bei anderen anzuerkennen, dass sie ebenfalls Wünsche haben, die Berücksichtigung verdienen.
- Sich seiner selbst bewusst sein: Wenn es einem mal nicht gut geht, man sehr emotional ist, dann steckt da immer ein Bedürfnis dahinter, welches nach Berücksichtigung schreit. „Gefühle sind die Kinder von Bedürfnissen.“ Ein paar Mal tief Luft holen, ein wenig Beschäftigung mit sich selbst macht einem klar, worum es einem gerade geht. Erst wenn einem das selbst verständlich wird kann es gelingen, entsprechende Wünsche zu kommunizieren, die annehmbar sind und in Unterstützung, die man sich vielleicht ersehnt, münden können.
- Verzicht auf ein Abschieben der Verantwortung auf gesellschaftliche Bräuche und Zwänge oder das Verhalten des Gegenübers. Das ist kontraproduktiv, da es am wahren Thema vorbeiführt und eher Rechtfertigungsbedarf auslöst im Gegenüber. Eine klare Benennung eigener Wünsche, vielleicht verbunden mit dem Ersuchen um Unterstützung, wirkt oft Wunder. Wo ansonsten sich das Gegenüber vielleicht falsch verstanden oder gar angegriffen fühlt kann eine Einladung erkannt werden, hilfreich zu sein mit guten Ideen für eine Lösung.
- Ist es das Gegenüber, das gerade versucht, mit Angriff oder Floskeln über Zwänge, die sich so gehören würden, Bedürfnisse zu verstecken, so kann ein simples "Ich spüre, dass Du Dich gerade sehr ärgerst - kann das sein?" mit anschließendem Zuhören und der zur rechten Zeit eingeflochteten Frage "Was könnte Dir jetzt helfen?" sehr hilfreich sein. Nicht nur für das Gegenüber - auch für einen selbst: denn so gelingt es, sich nicht anstecken zu lassen und den Ärger zu seinem eigenen Ärger zu machen.
Banale vier Schritte, oder? Die Auswirkungen sind aber groß. Beispielsweise bei den oben genannnten drei Situationen. Wird statt des Zitates des Slogans der Frauenministerin einfach nur festgestellt, heute besonders genervt zu sein von der Arbeit und daher besonders viel Ruhe zu brauchen, dann fällt es der Partnerin oder dem Partner sicher leichter, Hilfe anzubieten für einen ruhigen und versöhnlichen Tagesausklang. Wird statt des Suchtvorwurfes angesprochen, dass man sich gerade wertlos fühlt und Sehnsucht nach bewusster Zweisamkeit hat, so wird sich rasch Zeit für eine handyfreie Aktivität finden. Und Offenheit im Umgang mit eigenen Bedürfnissen wie auch jenen betroffener Mitmenschen lässt hinsichtlich der Weihnachtsfeier ungeahnte Möglichkeiten aufkommen, wie dieses Fest von allen lustvoll begangen werden kann.
Viel Erfolg beim Ausprobieren. Seien Sie dabei bitte geduldig – vor allem auch mit sich selbst!