„Was du nicht willst, dass man dir tut, das füg auch keinem andern zu.“ Dieser Spruch, welcher in zahlreichen Abwandlungen auch als „Goldene Regel“ Eingang in die Philosophie und die Religion gefunden hat, wird oft als Grundsäule der Nächstenliebe bezeichnet. Ulpian, ein römischer Jurist und Philosoph, welcher 170 bis 228 lebte und dessen Erkenntnisse zum Teil bis heute in wortwörtlicher Übernahme in geltende Gesetze nicht mehr übertroffen wurden, hat diesen Grundsatz auch als wichtige Basis für Gerechtigkeit versucht in die Rechtsordnung zu übernehmen: „Gerechtigkeit ist der beständige und dauerhafte Wille, jedem sein Recht zuzuerkennen.“
In der Tat wirkt der Gedankenansatz sehr einleuchtend und auch leicht zu befolgen: man muss doch nur die anderen so behandeln, wie man selbst behandelt werden will. Ein Grund dafür, dass dieser Zugang zur Behandlung seiner Mitmenschen auch so gerne in der Erziehung eingesetzt wird: Kinder und Jugendliche werden bereits dazu angehalten, sich einfach auszumalen, wie eine geplante Handlung oder eine bereits auf der Zunge liegende Antwort auf sie selbst wirken würde. Je nachdem, zu welchem Ergebnis man dabei kommt, schreitet man entweder im Vorhaben voran oder reflektiert nochmals andere Möglichkeiten. Das braucht viel Selbstbeherrschung, viel Mut zur Selbstkritik, viel Übung, schenkt einem aber auch rasch das Gefühl, seinem Gegenüber anständig zu begegnen.
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Doch diese Geschichte hat einen Haken. Denn ganz so banal, wie die beschriebene praktische Anwendung dieser viele Jahrhunderte alten Weisheit vermittelt wird, ist sie ja bedauerlicher Weise doch nicht. Es wird dabei nämlich übersehen, dass die alten Philosophen, als sie den Spruch prägten, diese Maxime im untrennbaren Kontext mit der Überzeugung aufgestellt haben, dass jeder Mensch als Individuum zu betrachten und wertzuschätzen ist: auch wenn die Bedürfnisse der Menschen einander in den Grundausprägungen sehr ähneln, so werden sie doch jeweils in einem höchstpersönlichen Wertegebilde anders erlebt. Auch wenn beispielsweise die eine Person echte Freude empfindet, wenn sie zum Geburtstag Schnittblumen erhält, so kann dies bei einer anderen wahre Enttäuschung, wenn nicht sogar Verärgerung auslösen, wenn sie mit einem solchen Geschenk bedacht wird.
Wer die goldene Regel als Unterstützung für ein gedeihliches Miteinander einsetzen möchte, ohne dabei unliebsame Missverständnisse und Frustrationen heraufzubeschwören, der muss zunächst einen Schritt zurück machen. Ist es wirklich der Blumenstrauß, welcher einem Freude bereitet, oder ist es vielleicht doch die Aufmerksamkeit, welche einem das Gegenüber dadurch geschenkt hat, sich ein wenig mit den persönlichen Vorlieben zu beschäftigen vor der Entscheidung für den duftenden bunten Gruß aus der Natur? Entsprechend der wahren Bedeutung der simplifizierten Anwendung von Nächstenliebe ist es nämlich der Perspektivenwechsel in die Welt des Gegenübers, welcher erfolgversprechende Grundlage für deren Entsprechung ist. Das Sich-Hineinversetzen in die Lage der Mitmenschen so wie man es selbst als angenehm empfindet, Verständnis für sein Selbst zu erhalten.
Es geht also bei der Umsetzung des oft gehörten und leider auch oft missverstandenen Spruches, man solle einfach auf Handlungen verzichten, welche auch einem selbst missfallen, nicht darum, demAppell an eigennützige Klugheit zu folgen, die Vor- und Nachteile zu erwartender Reaktionen auf das eigene Handeln zu bedenken. Das dahinter steckende Geheimrezept besteht aus der Bereitschaft, sich einmal in die Mokassins der Mitmenschen hineinzufühlen und die dabei in Erfahrung gebrachten Interessen und Wünsche Anderer als gleichwertig mit den eigenen zu berücksichtigen. Es geht darum, Verständnis füreinander aufzubauen und sein Handeln danach bei gleichzeitiger Wertschätzung für das Anderssein auch über ethische Grenzen hinweg auszurichten.
Viel Erfolg beim Ausprobieren. Seien Sie dabei bitte geduldig – vor allem auch mit sich selbst!