Der Wecker läutet. Damit beginnt für die meisten Menschen der Start in den Alltag. Einen Alltag, welcher großteils bereits automatisch abgespult wird: all die Entscheidungen, die zu treffen sind, werden aufgrund eines eigens entwickelten Musters ohne groß nachzudenken, gefällt. Viele davon, weil man gelernt hat, dass es sich so gehöre: im Zug sitzt man still;im Büro erledigt man die Aufgaben, ohne groß darüber nachzudenken, weshalb die Arbeitsprozesse eigentlich so sind, wie sie sind; muss man nießen, so entschuldigt man sich; hat man Hunger, so verkneift man sich das Essen bis zur Mittagspause.

Zahlreiche Rituale des Lebens hat man auch eigens entwickelt, weil man sich daraus Effizienz und Sicherheit verspricht. Was dabei aber immer kürzer kommt, das ist die emotionale Sicht auf die Dinge. Leider. Denn dadurch wird nicht nur die Vielzahl an Alternativen zum monotonen Lebenstrott, die jeder Moment aufs Neue mit sich bringt, oftmals übersehen. Man beginnt auch, scheinbar abzustumpfen. Immerhin ist es ja nicht gesellschaftsfähig, Emotion zu zeigen: man hat sich seine Wut zu verkneifen, den Ärger in schönen Worten zu verstecken, Trauer zu Hause im stillen Kämmerlein zu bewältigen, Liebesbezeugungen in den eigenen vier Wänden auszuleben und Angst: ja Angst hat man überhaupt zu meiden, ist sie doch ein Zeichen von Schwäche, die beinhart ausgenutzt wird.

All diese Gefühle bleiben aber da. Selbst wenn sie irrational erscheinen. Auch wenn man sie wegzusperren versucht. Auch wenn den gesellschaftlichen Erwartungen entsprechend vermieden wird, sie rauszulassen. Alle Empörungsstürme als Sanktion für ein Zuwiderhandeln können sie nicht auslöschen. Im Gegenteil: je erfolgreicher darauf verzichtet wird, ihnen Raum zu geben, desto mehr entwickeln sie die Dynamik eines Druckkochtopfes, bei welchem das Ablassventil verstopft ist.

Wagt es dann jemand, in der Öffentlichkeit eine Emotion anzusprechen, zu welcher viele andere ebenfalls nicht wissen, wohin mit ihr, dann ist das eine wunderbare Chance: dieser Tabubruch kann nämlich helfen, die in dem Gefühl steckende unbändige Energie freizulassen und dabei gemeinsam dafür einzusetzen, Lösungen zu finden. Die Menschen sind erleichtert, nicht allein zu sein, und es entwickelt sich ein starkes Gemeinsamkeitsgefühl. Ein Miteinander, welches die gesammelte Kraft hat, Berge zu versetzen.

Man kennt das etwa aus dem Wartezimmer eines Zahnarztes: die bei den meisten Menschen vorhandene Angst in dieser Situation schafft hier eine starke Verbundenheit der wartenden Personen, welche umgekehrt wieder dabei hilft, die Vorstellung der bevorstehenden Torturen zu ertragen.

Es besteht aber auch umgekehrt ein Risiko, dass die Veröffentlichung eines eigenen Gefühls genau das Gegenteil auslöst, selbst wenn es viele gibt, die ebenso empfinden: statt der beschriebenen Chance wird dann ein Tribunal eröffnet wegen der Ungeheuerlichkeit, ein Gefühl zuzugeben. Eine Emotion vielleicht sogar, welche auf den ersten Blick nicht in die Welt der von der Gesellschaft gewünschten Werte passt. Zu welcher man sich doch verschämt zurückziehen sollte, statt zu ihr zu stehen. Selbst wenn man spürt, dass man da offenbar gar nicht so alleine damit ist. Hat man doch gelernt. Und die anderen können es doch auch. Es ist also denkbar, dass sich da Richterinnen und Richter finden, die hier rasch den Knuppel aus dem Sack holen und die verbale Keule der Verurteilung schwingen, bevor vielleicht auch andere sich getrauen könnten, das mehr oder weniger gut unterdrückte Gefühl zuzugeben, rauszulassen, miteinander zu einer Kraft werden zu lassen, mit welcher ungeahntes möglich werden könnte.

Wie kann es besser gehen? Nun, eigentlich ganz leicht: man braucht einander nur zuhören, Man muss einander nur Ernst nehmen, selbst wenn da Gefühle geschildert werden, welche man mit dem Verstand nicht begreifen kann. Es ist nämlich sogar eher der Regelfall, dass der Kopf mit der Sprache des Herzens leichte Probleme hat. Das darf daher sein. Je mehr Raum für einen selbstverständlichen und wertfreien Umgang zur Verfügung gestellt wird, desto besser wird das Miteinander funktionieren. Wer sich nicht mehr verstecken muss, der wird sich einbringen können und seine Energie nicht mehr darauf vergeuden müssen, sein Gefühlsleben wunschgemäß an der kurzen Leine zu halten.

„Ich habe Angst“ wurde dieser Tage von einer sehr herzlichen Person geschrieben. Wahnsinnig viele Menschen haben das gelesen und das erste Mal hoffnungsvoll aufgeschaut dabei zu einem Thema, zu dem sie nicht mehr wussten, was sie nun machen sollten. Endlich spricht jemand, ohne gleich zu radikalisieren, dieses Gefühl an, welches sie immer mehr quält. Da versteht sie jemand, da will jemand zuhören, ohne gleich zu urteilen. Endlich ist es möglich, ohne gleich einer Partei zugeordnet zu werden, in eine Diskussion einzusteigen. Vielleicht sogar eine Lösung zu finden. Jedenfalls aber: verstanden zu werden.

Dafür muss man sich nicht entschuldigen. Ganz im Gegenteil. Danke für die Chance, die damit eröffnet wurde, auch jene einzuladen zu einer Diskussion über Lösungen, welche sich bislang fürchteten, zu ihren Gefühlen zu stehen. Ja, man darf Angst haben. Ja, man darf das ansprechen. Nein, man hat damit weder eine Meinung ausgesprochen, noch ist das Rechtfertigung für eine Verurteilung. Vielmehr ist es die Chance auf ein gegenseitiges Zuhören, ein wertschätzendes Miteinander.

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Hansjuergen Gaugl

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