Schule steht weit über die Bezeichnung am Türschild hinaus für viele Formen der Begegnung von Menschen. Zunächst denkt man hier sicher an einen Ort, an welchem Wissenstransfer stattfindet. Auch ein für das Funktionieren und die Weiterentwicklung einer modernen Gesellschaft sehr bedeutsamer Beitrag zur Persönlichkeitsentwicklung der anvertrauten Kinder und Jugendlichen findet hier statt. Wo Menschen so intensiv und regelmäßig aufeinandertreffen wie im schulischen Zusammenwirken von Eltern, Kindern beziehungsweise Jugendlichen und den Lehrkräften, bieten sich allerdings auch ganz andere Gelegenheiten: das Lehrpersonal kann zum Beispiel wertvolle Rückmeldungen machen zu einer weit über die eigentliche Zielsetzung des Bildungsauftrages hinausgehenden Perspektive – nämlich zu Beobachtungen betreffend die Entwicklung des Nachwuchses auch außerhalb des Bereiches der Annahme reproduzierbaren Wissens: zunehmende Unaufmerksamkeit, Gereiztheit und verändertes Sozialverhalten in der Gruppe können Alarmsignale sein, zu denen nicht einfach zur Tagesordnung übergegangen werden sollte.

Wenn also Eltern zu einem Gespräch mit den Lehrkräften eingeladen werden, so muss dies nicht unbedingt dem alleinigen Zweck dienen, eine Rückmeldung zu geben zum aktuellen Stand der schulischen Entwicklung. Es kann sein, dass es nicht nur um Noten und die Besprechung allenfalls hilfreicher unterstützender Maßnahmen bei der Erreichung von technischen Lernzielen geht. Unter Umständen kann es sein, dass bei einer solchen Unterhaltung das Kindeswohl zum Thema gemacht wird: weil Beobachtungen im Schulalltag Fragen aufkommen lassen, ob der junge Mensch sich gerade vor Aufgaben gestellt sieht, bei welchen er für eine Berücksichtigung der eigenen Bedürfnisse Unterstützung gut vertragen könnte.

Betrachtet man die statistisch verfügbaren Zahlen rund um das Thema Familie, so kann man sehr rasch erkennen, dass eine diesbezügliche Notwendigkeit kein Ausnahmefall sein wird: Viel zu oft in Scheidungen mündende Dauerkonflikte im Elternhaus sind keine Ausnahmeerscheinung und die Familiengerichte haben alle Hände voll zu tun mit Schriftsätzen, in denen Eltern sich wechselseitig aberkennen wollen, für die eigenen Kinder ein guter Umgang zu sein. Mehr als zwei Millionen Kinder und Jugendliche sind allein in Deutschland zu Scheidungswaisen geworden – nicht immer mit einem Rosenkrieg verbunden, dafür sind da umgekehrt allerdings jene jungen Menschen, bei welchen das Thema Trennung der Eltern zwar bereits im Alltag spürbar, aber noch nicht vollzogen ist, noch gar nicht mit eingerechnet. Schülerinnen und Schüler kommen also in erschreckend zahlreichen Fällen mit einem schweren Rucksack morgens in die Schule. Mit diesem Rucksack ist dabei allerdings nicht jene Tasche gemeint, in welche neben dem Pausenbrot auch die für den Unterricht benötigten Utensilien und Lernbehelfe verstaut werden. Es geht vielmehr um jene belastenden Gedanken und Gefühle, welche der junge Mensch aus dem Zuhause mitnimmt: weil wieder einmal der Haussegen in der Familie schief hängt. Weil wieder einmal die eigenen Eltern sich nur noch Drohungen und unschöne laute Worte mitzuteilen haben zu Themen, von welchen man meist keine eigene Erfahrung hat und diese daher nicht so recht einzuordnen weiß. In einer Zeit, in welcher sich das Kind beziehungsweise der Jugendliche entsprechend dem aktuellen Stadium der Persönlichkeitsentwicklung gerade mit sich selbst zu beschäftigen hätte, wirken destruktive Konflikte jener Menschen, deren Vorbild und Unterstützung eigentlich gerade besonders wichtig wäre, besonders belastend.

Für Kinder sind sowohl Mama als auch Papa die ersten großen Fixpunkte einer kleinen Welt, von der aus es gilt, sich vorzubereiten auf die Möglichkeiten und Herausforderungen des Lebens draußen im Universum der Gesellschaft. Kinder sind dabei sehr aufmerksam in der Beobachtung ihrer Idole. Bereits im Säuglingsalter orientieren sie sich daran, wie die Eltern in ihrer jeweils individuellen Art mit den Herausforderungen des Alltags umgehen. Genauestens wird etwa verfolgt, wie denn das mit dem Essen und Trinken funktioniert, wie man Aufmerksamkeit bekommt und wie der Umgang mit Grenzen gehandhabt wird. Auch Streitverhalten wird dabei sorgfältig unter die Lupe genommen, wobei Kinder da auch sehr stark die nonverbale Ebene mitverfolgen: wie fühlen sich Mama und Papa da, und wie gehen sie jeweils damit um. Und das, was sie da erleben, prägt die ersten Denk-, Gefühls- und Verhaltensmuster. Eltern beeinflussen damit nachhaltig, wie die heranwachsenden Menschen einmal zu sich selbst stehen oder wie sie mit ihrem sozialen Umfeld und auch eigenen Partnerschaften umgehen. Erkennbar ist das unter anderem in den vielen Momenten, die Außenstehenden wie den Bezugspersonen in der Schule und auch bereits im Kindergarten auffallen: Kinder beginnen schon sehr früh, in diversen Situationen das Verhalten der Eltern zu spiegeln und zu üben.

Kinder haben dabei nicht nur ein unendliches Grundvertrauen in die eigenen Eltern, sie kupfern nicht nur sehr vieles von diesen beiden Menschen ab. Sie empfinden Eltern auch als unverzichtbare Bezugspersonen. Selbst wenn es in einigen Altersstufen gar nicht cool ist – und sie es daher nur ungern zugeben. Auch wenn es immer wieder Phasen der Abnabelung gibt, so spürt der Nachwuchs doch eine gewisse Abhängigkeit von der Fürsorge der Eltern: Diese ist dabei gar nicht einmal so materiell ausgerichtet, wie sie in der heutigen Zeit langer Wunschzettel mit teuren Geschenken aussehen mag. Es handelt sich dabei mindestens ebenbürtig um eine emotionale Verbindung, auf welche Kinder angewiesen sind für ihre Entwicklung. Genau diese enge Verbindung in einer Überzeugung der Abhängigkeit macht Prägungen durch die eigenen Eltern so machtvoll.

Gerät nun die Beziehung zu einem der beiden Elternteile in Gefahr oder wird diese sogar unterbunden, so ist dies eine traumatische Erfahrung, die enorme Unsicherheit auslöst: Es wird die Ohnmacht, daran etwas zu ändern, rasch in Schuldgefühle umgewandelt. Nicht selten geben sich Kinder sogar die Schuld an unschönen Konfliktszenen zu Hause oder gar einer Trennung der eigenen Eltern. Ein Phänomen, welches sogar bei erwachsenen Betroffenen noch häufig anzutreffen ist. Ein weiterer Gesichtspunkt aus der Perspektive der Kinder ist die Erkenntnis, nun die Hälfte der Hauptbezugspersonen zu verlieren. Das macht Angst. Angst, nun unter Umständen auch die andere Elternhälfte verlieren zu können und vollkommen hilflos und allein in der großen Welt dazustehen. Damit erklärt sich, weshalb Kinder rasch dazu neigen, Verantwortung für das Wohlergehen jenes Elternteils zu übernehmen, bei dem sie sich befinden.

Allesamt Situationen, welche Kinder und Jugendliche rasch überfordern können: wenn Eltern sich streiten, so geht es meist um Themen, zu welchen von den sich mitten im Geschehen befindlichen Kindern und Jugendlichen noch kein Gespür entwickelt werden konnte, welche Bedeutung sie überhaupt haben können. Umso abstrakter und schwerer einzuordnen sind daher die in der Eskalationsspirale bedrohlicher werdenden Spannungen. Statt der für das eigene Wachstum förderlichen Atmosphäre von Sicherheit, Wärme und Geborgenheit wird Explosivität wahrgenommen, zu welcher jede Phantasie fehlt, wie diese wieder abgebaut werden kann. Selbst dann, wenn Eltern darauf bedacht sind, vor dem eigenen Nachwuchs gute Miene zum bösen Spiel zu machen: was vor den eigenen Kindern nicht ausgefochten werden soll, ist schon längst von diesen wahrgenommene Realität. Und muss irgendwie ausgelebt werden, was sich zum Beispiel auch in Verhaltensänderungen, welche in der Schule beobachtet werden können, niederschlägt.

Moderne Schulen haben bereits längst erkannt, dass die Zeit, für welche Kinder und Jugendlichen ihnen zur Wissensweitergabe anvertraut werden, auch für viele weit über einen Abschluss hinausgehende Hilfestellungen genutzt werden können: moderne Pädagogik reicht über die Methoden des bestmöglichen Wissenstransfers hinaus, es werden die jungen Menschen in ihrer gesamten Persönlichkeit wahrgenommen. Und damit auch mit ihren Sorgen und Problemen, zu welchen unter Umständen nicht bloß die Bewältigung zu Hause schwerfällt, sondern vielmehr die Ursachen dort zu finden sind. Es wird dazu ein Netz aus Hilfestellungen angeboten, das einerseits in der Aktivierung schulpartnerschaftlicher Prozesse etwa in Form von Elterngesprächen aktiviert wird, andererseits auch moderne Methoden der Unterstützung einschließt: Mediation, Peermediation und schulpsychologische Angebote runden dabei die von den Lehrkräften bis hin zum Vertrauenslehrer beziehungsweise der Vertrauenslehrerin geformte Palette ab.

Natürlich heißt es, besonders sensibel vorzugehen, wenn Beobachtungen darauf schließen lassen, dass ein Kind beziehungsweise ein Jugendlicher damit zu kämpfen hat, dass unkontrolliert eskalierender elterlicher Streit aus dem Zuhause ein für das Kindeswohl abträgliches Schlachtfeld macht. Eine Vorladung mit der direkten Nachfrage bei den Eltern, ob denn schon einmal an Paartherapie gedacht wurde, wird in aller Regel eher zu einem Sturm der Empörung einschließlich diverser Schulaufsichtsmaßnahmen führen denn als Hilfestellung angenommen werden können. Um nicht selbst in den Konflikt hineingezogen zu werden – worüber Schulen ebenfalls viel zu oft berichten können – gilt es, die Beobachtungen zum Kindesverhalten aus Außenperspektive als das zu verpacken, was es ist: ein Geschenk. In aller Regel wird es nämlich gar nicht auf den bösen Willen von Eltern zurückzuführen sein, dass die Bedürfnisse des eigenen Nachwuchses übersehen werden, wenn sie gerade in zum Teil existenzbedrohend erlebten Konflikten mit dem Partner beziehungsweise der Partnerin stecken. Die empathisch vorgetragene Beobachtung zur Entwicklung des Nachwuchses, gepaart mit offenen und wertfreien Fragen, ob denn das Kind oder der Jugendliche gerade in seiner Umgebung viel mit ungelösten Konflikten zu tun hat, kann da für alle Beteiligten der Beginn sein für einen Nachdenkprozess in Richtung stärkerer Beachtung des Kindewohls.

Was kann noch im schulischen Kontext gemacht werden, um Konflikten – auch im Elternhaus – den Schrecken zu nehmen? Drei Anregungen könnten sein:

• Einbau von Konfliktmanagement in den Unterricht aus der jeweiligen Perspektive: das Camp Davids-Abkommen oder der Westfälische Friede etwa als Beispiele gelungener Mediation im Geschichtsunterricht, die Möglichkeiten und Merkmale gewaltfreier Kommunikation im Sprachunterricht …

• Intensivierung von Peermediation mit professioneller Begleitung, um damit die Befähigung im Erkennen und friedlichen Lösen von Konflikten zu stärken

• Schulpartnerschaftliche Vereinbarungen als Ergebnis regelmäßiger Projektwochen mit Beteiligung von Eltern, Lehrkräften und Schülerinnen beziehungsweise Schülern zum Ausbau des Angebotes niederschwelliger Hilfestellungen auch für Eltern.

Schule ist jener Ort, an welchem Eltern, Lehrpersonal und Kinder beziehungsweise Jugendliche an einem gemeinsamen Strang ziehen. Dies nicht nur im Hinblick auf das Erreichen von Bildungszielen. Als Ort der sozialen Begegnung kann hier auch eine Basis gelegt werden für ein wertschätzendes Miteinander selbst in herausfordernden Lebenssituationen. Eine Chance für die Förderung der Persönlichkeitsentwicklung der jungen Menschen, aber auch der gesamten Gesellschaft. Wer die heranwachsende Generation begleiten will, muss sich auch einlassen in ihre Welt empfundener Herausforderungen – welche nicht am Schultor Halt machen. Zum Beispiel, wenn Eltern sich streiten.

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FraMoS

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