Kurt hat sich einen Kaffee heruntergelassen. Die Kinder spielen gerade miteinander, der Haushalt ist für heute erledigt. Er möchte diesen sich gerade bietenden Moment der exklusiven Zeit für sich selbst nutzen, um seine Stimme zur bevorstehenden Wiederholung der Stichwahl zum österreichischen Bundespräsidenten abzugeben.
Er studiert zunächst die Anleitung für die korrekte Abgabe seiner Briefwahlstimme. Er kann auch gar nicht anders, als kritisch zu überprüfen, ob denn das Kuvert auch gut verklebt ist. Dann streift er den Stimmzettel glatt und nimmt einen Kulli zur Hand. Schon beim letzten Mal ist es ihm irgendwie verdammt schwer gefallen, das Kreuz bei jenem Namen zu machen, von dem er sich wünscht, dass er die nächsten sechs Jahre das Staatsoberhaupt Österreichs darstellt. Diesmal ist es noch schlimmer: die letzten Wochen hat man im Fernsehen und in den Zeitungen schließlich nur vernommen, weshalb die beiden Kandidaten sich gegenseitig als unwählbar bezeichnen. Nicht einmal Facebook bereitet mehr so rechte Freude: statt netter Fotos, anregender Zitate und Nachrichten von Bekannten springen einem unentwegt teilweise schon echt tiefe Diskussionsfäden entgegen; ehemals beste Freude beschimpfen sich nur noch. Kurt ist froh, dass er sich erfolgreich zurückgehalten hat mit einer Preisgabe seiner Wahlentscheidung. Er steht ja gerne zu seiner Meinung und würde diese auch gerne diskutieren, ja wäre sogar bereit, sie nochmals zu überdenken. Doch irgendwie scheint dies diesmal selbst mit jenen Menschen nicht möglich zu sein, die er an sich für ihre besonnene Art schätzt: sobald ein Gespräch auf einen der Kandidaten kommt geht es sofort los mit zum Teil irrationalen Vorurteilen gegen die wahlberechtigten Menschen, die doch nichts anderes wünschen als ein Staatsoberhaupt, das darauf achtet, dass es Österreich auch weiter gut geht.
Während Kurt, den Kulli in der Hand und den Stimmzettel vor sich liegend, zur finalen Entscheidung ansetzt, wo dieses Mal sein Kreuz hinkommt, schaut er zu seinen spielenden Kindern hinüber. Und plötzlich wird ihm klar, dass die Entscheidung eigentlich viel leichter ist, als er dachte: Wen würden seine Kinder wählen? Wem würden seine Kinder am ehesten zutrauen, Österreich so zu repräsentieren, wie die hier lebenden Menschen gesehen werden wollen? Wem würden sie eher ihre Sorgen und Hoffnungen anvertrauen, wenn er vor ihnen stehen würde? Zu welchem der beiden Kandidaten wird es Kurt daher leichter fallen, seinen Kindern zu erklären, weshalb er ihn gewählt hat und ihm die Vertretung Österreichs in der Welt anvertraut hat. Ihm anvertraut hat, mahnende und auch ermunternde Worte an die Regierung zu richten in Zeiten besonderer Herausforderungen?
Ja, eigentlich ist die Entscheidung also doch ganz leicht. Voll Zuversicht macht Kurt ein entschiedenes Kreuz bei seinem Kandidaten – und ist sich plötzlich sicher, die richtige Wahl getroffen zu haben. Jetzt fehlt nur noch, dass es die Mehrheit der Wahlberechtigten ebenso sieht – und die in diese Person gesetzten Erwartungen danach auch im Interesse aller Menschen in Österreich erfüllt werden.